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Der knallgelbe Postbus

Wir starten erst mal in Thusis und folgen brav den Schildern via mala oder via spluga. Er scheint hier in der Schweiz gut ausgeschildert. So gehen wir eine alte Straße entlang bis wir an deren Ende nach fast einer Stunde auf einer vielbefahrenen Straße weitergehen müssen und merken, dass wir doch falsch gegangen sind.

Fußgängerbrücke über den Rhein.

Auf der anderen Rheinseite sehen wir eine Hängebrücke und ärgern uns natürlich, dass wir jetzt ein autolautes Asphaltband entlang müssen, anstatt über diese spektakulär aussehende Brücke. Es ist der Traversiner Steg, entnehmen wir dem Wanderführer mit dem wir uns wieder orientieren wollen. Das wollen auch zwei Frauen, die ebenso ratlos schauen, wo sie denn genauso wie wir gelandet sind. Die freuen sich aber, dass sie mit dieser Variante eine halbe Stunde gewonnen haben. Eine ganz andere Sicht der Dinge: wir wollen den Weg gehen, weil wir Eindrücke gewinnen wollen. Und die sehen schon jetzt vielversprechend aus.
Das Intermezzo mit der großen Straße war nur kurz, wir queren den Rhein, lassen unsere Rücksäcke stehen und gehen wieder ein kurzes Stück auf der verpassten Rheinseite zurück, um den Traversiner Steg würdig zu begehen. Wenn es nur öfter gelänge, einfach ein Stück zurück zu gehen, um Verpasstes nachzuholen. Aber vielleicht sollten wir es nur öfter probieren anstatt versuchen, etwas Zeit zu gewinnen?

Reste der alten römischen Passstraße.

Trotz alledem wandern wir natürlich grundsätzlich vorwärts an diesem heißen Augusttag und davon will ich ja berichten. Wobei es natürlich schon interessant ist, zurückzuschauen, zu lesen über die Anfänge dieses Weges, der nicht nur eine Verbindung zwischen Nord und Süd, sondern vor allem eine Lebensader für die dort lebenden Menschen darstellt. Die Lebensgrundlage, die immer dann weg zu brechen drohte, wenn anderswo, zum Beispiel am Gotthard oder am Brenner ein anderer schnellerer oder komfortablerer Weg erschlossen wurde, der dann besser genutzt, die via spluga im wahrsten Sinne links liegen ließ. So wie Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Bau bedeutender Eisenbahnlinien. Dabei sahen aber auch in der Blütezeit des spluga, so um 1800, die Lebensbedingungen der dort beschäftigten Säumer nicht gerade rosig aus: das Fuhrmannsgewerbe raffte die Männer in den besten Jahren dahin oder stürzte sie in Krankheiten, die auch zum frühen Tod der Kinder führten. 50 Prozent starben vor Erreichen des zehnten Lebensjahrs!

Dorthin, in diese düstere alte Zeit, wollen wir natürlich nicht zurück und so blicken wir nach vorne, entlang und zwischen der Landstraße, der Autobahn, dem Wanderweg und dem Rhein. Alles fast parallel gebaut oder einfach da, in dem mal mehr oder weniger engen Tal. Dabei berühren wir nur selten eine der Straßen, einmal überqueren wir die Autobahn, dann kreuzen wir wenige Male die nicht stark befahrene Landstraße.
Trotzdem diese großen Straßen nicht stören, sind sie doch präsent, manchmal hört man die Autos, wenn wir uns etwas vom lauten Plätschern des Rheins entfernen und uns dabei einer Straße nähern, manchmal ist es aber auch ganz ruhig und dann wird die alte Straße, die alte via spluga lebendig, die so gut eingepasst ist in diese alte und mächtige Landschaft. Ein Weg, der so wenig stört, weil es kein dunkles Asphaltband ist, sondern eine Trasse, die mit den Steinen der Umgebung befestigt und begradigt wurde.

Holzdecke der Kirche in Zillis.

Die Kirche in Zillis
Aber es ist nicht nur die Straße, die ist ja nur Mittel zum Zweck, nämlich zum einen für den Gütertransport, zum anderen aber ganz einfach um Menschen und Orte zu verbinden. Alte Orte, in denen alte Kirchen stehen. Zeugnisse einer hunderte Jahre alten Kultur, so wie die im Führer angepriesene Kirche in Zillis, deren Ursprung bis ins fünfte Jahrhundert zurückreicht und deren Kirchendecke wohl weltberühmt ist. Die schauen wir uns natürlich an. 153 bemalte, aus rund 400 Brettern zusammengesetzte Einzelfelder, die allesamt biblische Szenen darstellen. Ein erstaunliches Kunstwerk fernab der großen Zentren. Aber vielleicht erklärt das ja auch schon etwas unseren Weg, die via spluga, denn der muss wohl in einer anderen Zeit eine entscheidende und bedeutende Rolle gespielt haben, anders als heute, wenn immer mehr Touristen das Schams nur für die immer schneller werdende Durchfahrt in den Süden und wieder zurück achtlos durchrasen.
Doch mich hat in der Kirche etwas anderes beeindruckt: da lag vorne in Altarnähe eine aufgeschlagene Bibel. Zufällig genau an dieser Stelle, Kohelet 9.6, aufgeschlagen?

Dankbar geniessen, schreibt Kohelet…

Bis zu diesem Tag war mir auch dieser Kohelet gänzlich unbekannt. Aber es hat mir gefallen, was er verkündet hat. Das klingt bedeutend lebensnäher und vor allem auch lebensfroher als diese ältlich unverbindlichen Benimm-Dich Predigten, die ich aus meiner Jugendzeit in Erinnerung habe. Mich hat das so begeistert, dass wir danach konsequent jede Kirche – fast jede – auf der via spluga angeschaut haben. Vielleicht hätten wir das auch ohne Kohelet getan, aber mir hat es seitdem bei Weitem mehr Spaß gemacht. Zum Beispiel die evangelische Kirche von Splügen, über deren Größe wir staunen. Sie wurde 1687/1689 gleich für drei Pfarreien, Sulfers, Splügen und Medels erbaut. Sie ist im alpinen Barock recht einfach gehalten und im Wanderführer wird das reich verzierte Familiengestühl hervorgehoben.

Wir genießen die heilige Ruhe bevor wir nach Splügen hineingehen und uns eine Mittagsrast gönnen. Das war am zweiten Tag. Der gab sich bis in den Nachmittag hinein wettermäßig launisch bis schlecht. Kaum hatten wir am Morgen die ersten Schritte getan, fing es schon zu tröpfeln an. Richtig geschüttet hat es aber nie, so dass uns unter dem grauen Himmel einzig die hochsommerliche Farbenpracht abging, die wir tags zuvor, allerdings sehr schwitzend, genießen konnten.

Der Traversiner Steg.

An jenem Mittag gleich nach der Besichtigung der Zilliser Holzdecke träumten wir von einer Rast irgendwo im Schatten, idealerweise am Fluss. Dazu kauften wir uns in einem Kiosk etwas Kekse und Limonade. Belegte Semmeln hatten wir vom Frühstückbuffet des Hotels mitgenommen. Und manchmal werden eben auch Träume wahr: wir fanden tatsächlich so eine Stelle. Ich legte mich erst in den kalten erfrischenden Fluss, danach dösten wir im Schatten der Uferbäume bei rheinischer Begleitmusik, die so anders klang als das wortreiche niederrheinische Karnevalsgetöse.

Da hätten wir natürlich ewig liegen bleiben können, doch wir mussten ja weiter, weiter bis zum Hotel Roflaschlucht, wo wir uns für eine Übernachtung angemeldet hatten. Mir schien es nach der Pause bedeutend heißer zu sein als vorher. Und so geriet die zweite Etappe des Tages noch zu einer sportlichen Herausforderung durch wunderschöne Landschaft, nicht nur am Ufer des Rheins entlang oder über ihn hinweg, auch durch sonnenlichte und dann wieder schattige Wälder oder neben blühenden Wiesen weiter, irgendwann das Ende, das Hotel herbei sehnend. Wir nahmen es am Schluss mit viel Humor und sportlich, dass wir unwissend der Markierung folgend mit müden Beinen noch einen einstündigen Umweg über eine Bergkuppe stiegen, um danach festzustellen, dass wir beim Einstieg in den Aufstieg gerade mal 500 Meter und eine uneinsehbare Kurve weit entfernt vom Hotel waren. Das steigerte aber den Genuss des wohlverdienten Bieres. Und meine Forelle, frisch aus dem Rhein, schmeckte wahrscheinlich deswegen gleich doppelt so gut.

„Tü-Ta-Too!“
Beim Essen draußen vor dem Hotel auf rot-weiß karierter Tischdecke mit Blick auf die Passstraße kündigte ein Postbus mit seinem unverwechselbaren Dreiklanghorn «Tü-Ta-Too»! sein Kommen an. Ein paar Kinder am Nebentisch stimmten in einen Postbusrefrain ein:
Berg und Tal
Stadt und Land
Es Band in gälb verbindt üs mitenand
Berg und Tal
Stadt und Land
Es Band in gälb verbindt üs mitenand

Schweizerischer geht es nimmer! Sommerlicher auch nicht und irgendwie war alles gut, selbst das müde Gefühl in den Beinen und viel schöner kann ich es mir kaum vorstellen.

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