SchwedenStockholm

ESC: «Sie töten Euch alle»

Schon im Vorfeld der Schlagerparade von Stockholm hagelte es Proteste aus Russland: Jamalas Ballade von der Vertreibung der Krimtataren hatte zu offensichtlich aktuelle Bezüge. Die Sängerin beteuert: «Es geht um das Schicksal meiner Großmutter». Jetzt vermutet der Kreml gar eine westliche Verschwörung.

Russischer Ikarus abgestürzt: Sergey Lazarev überzeugte als Video-Künstler, seine ebenfalls englischsprachige Schmonzette „You Are The Only One

In «1944» besingt die Krimtatarin Jamala die Vertreibung ihrer Minderheit unter Sowjetdiktator Josef Stalin. Aus Russland hatte es Protest gegeben, weil man den Song als Kritik an der Annexion der Krim 2014 verstehen könnte.

Kiew/Stockholm/Moskau – Eine Verschwörung konnte man nach dem Marathon-Programm in der schwedischen Hauptstadt tatsächlich vermuten – allerdings kein politisches Komplott, sondern einen Verrat am halbwegs guten Musikgeschmack. Denn die neueingeführten so genannten Experten-Jurys honorierten vor allem Beiträge mit einem bohleneskem Klangteppich und offensichtlichen Anleihen bei erfolgserprobten Oldies – alle halbwegs originellen Darbietungen wie niederländischer Folk, georgischer Rock oder auch Jamie-Lee Kriewitz Ghost wurden abgestraft.

So gesehen kann man auch die schwache Bewertung für das russische Werk als ärgerlich einstufen: Sergey Lazarev überzeugte zweifellos als Video-Künstler, allerdings zeugte seine ebenfalls englischsprachige Schmonzette „You Are The Only One” auch nicht gerade von musikalischem oder schöngeistigem Tiefgang – vielleicht sollten wie beim Oscar künftig verschiedene Kategorien bewertet werden: Musik, Performance, Show … Jedenfalls setzte sich der Russe beim Publikum ingesamt als Sieger durch, wäre also ohne das retadierende Moment der Jury ganz vorne gelandet.

Jamie-Lee um 11 Punkte besser als Ann Sophie
Wie dem auch sei: Die Ukraine hat den Eurovision Song Contest 2016 gewonnen, weil sie vor beiden Richtern gut abschnitt. Die Sängerin Jamala bekam für ihr Lied «1944» 534 Punkte. Das gaben die Moderatoren des Musikwettbewerbs in Stockholm nach der Präsentation der Wertungen von Jurys und Publikum bekannt. Deutschland landete auf dem letzten Platz – mit nur elf Punkten. Die 18-jährige Jamie-Lee Kriewitz war mit dem Song «Ghost» angetreten. Im vergangenen Jahr hatte die deutsche Kandidatin Ann Sophie null Punkte bekommen und war somit ebenfalls ganz hinten gelandet.

Die ESC-Siegerin Jamala hat ihren Triumph beim Eurovision Song Contest als «fantastisch» und «verrückt» erlebt. «Ich wusste, dass es die Menschen berühren kann, wenn man über etwas Wahres singt», sagte die Sängerin in Stockholm. Die Krimtatarin setzte sich für die Ukraine gegen Künstler aus 25 anderen Ländern durch. Ihr Gewinner-Song «1944» handelt von der Vertreibung ihrer Minderheit durch Sowjetdiktator Josef Stalin. Deutschland landete auch beim diesjährigen ESC wieder auf dem letzten Platz.

Politik? Provokation? Pop?
«Sie töten Euch alle» lautet eine Textzeile des ukrainischen Gewinnerliedes des Eurovision Song Contests (ESC) in Stockholm. Während andere Interpreten über Liebe und Lust singen, präsentiert die Krimtatarin Jamala das Leid ihrer Urgroßmutter: «1944» handelt vom Schicksal hunderttausender Krimtataren, die unter Sowjet-Diktator Josef Stalin nach Zentralasien deportiert wurden. Und es hat auch mit Jamalas eigener Lebensgeschichte zu tun.

Besser als der immer gleiche Klangteppich: Minus One rockten für Zypern mit dem Song „Alter Ego

Unter ihrem bürgerlichen Namen Susana Jamaladinowa wurde sie am 27. August 1983 im zentralasiatischem Kirgistan geboren. Nach dem Ende der Sowjetunion kehrte sie mit ihrer Familie auf die Krim zurück – die Heimat ihres Vaters. Noch heute leben ihr Vater und ihre armenische Mutter auf der von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel. Den Erfolg der Tochter beobachten die Eltern nur aus der Ferne: Denn das letzte Mal habe sie die Familie 2014 besucht, sagt Jamala in einem Interview.

Jamala sang schon als kleines Kind im Chor, in Kiew absolvierte sie eine Ausbildung zur Opernsängerin. 2009 wurde sie bei einem Gesangswettbewerb in Lettland entdeckt, danach startet sie ihre Karriere in der Ukraine. Schon 2011 wollte sie für ihr Land in Düsseldorf noch mit einem weniger politischen Lied antreten, wurde bei der Vorausscheidung Dritte. Mit Jazz-Nummern war Jamala in den ukrainischen Charts vertreten. Ihre Inspirationsquelle für Stockholm? «Ich habe mich mit dem Soundtrack von Schindlers Liste auf den ESC vorbereitet», erzählt sie.

ESC-Direktor: Sichere Veranstaltung auch in der Ukraine
Wie die ukrainische ESC-Gewinnerin Ruslana von 2004 ist auch Jamala politisch aktiv. Deshalb habe ihr Siegerlied natürlich eine Mission, sagt die Sängerin nach ihrem Triumph in Stockholm: «Wer über die Wahrheit singt, kann Menschen berühren.»

ESC-Direktor Jon Ola Sand zeigt sich überzeugt, dass der Eurovision Song Contest nach dem Sieg der Sängerin Jamala im nächsten Jahr trotz Krise in der Ukraine steigen kann. An die ESC-Gewinnerin gerichtet sagte Sand: «Ich bin mir sicher, dass du und die Menschen in der Ukraine uns willkommen heißen und sicherstellen werden, dass wir alle sicher sind.»

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