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Das gotische Carcassone

Was die alten Goten in Visby opferten, wissen wir nicht. Dass sich hier in vorchristlicher Zeit bereits eine Opferstätte befand, dafür spricht das altnordische „vi“ im Stadtnamen. Seit der Wikingerepoche um 800 ist das 22.000-Einwohner-Städtchen an der Westküste permanent bewohnt. Die im Mittelalter bedeutende Hansestadt bezaubert wie Carcassonne mit einer – 3,5 Kilometer langen – Stadtmauer, hinter der viele Türme der Kirchen und Ruinen hervorlugen.

Ganz so mächtig wie die in Carcassonne ist sie vielleicht nicht, aber lang: die Stadtmauer von Visby.

Im Mittelalter lieferte die Hansestadt begehrten Stockfisch nach ganz Europa. Über Jahrhunderte betrug der Anteil deutscher Kaufleute an der Bürgerschaft nahezu 50 Prozent. Ihren Zenit erreichte die „Regina Maris“, Königin des Meeres im 13. und 14. Jahrhundert, ehe 1361 der dänische König Waldemar IV. Atterdag die Stadt eroberte – ein Verrat der Kaufleute soll dem Eindringling die Stadttore geöffnet haben, tobten die freien Bauern, die anschließend der Rache des Eroberers zum Opfer fielen. Durch den 1645 geschlossenen Frieden von Brömsebro wurde Visby mit Gotland ein Teil Schwedens.

An die 200 pittoreske Fachwerkhäuser tragen zum Charme der Stadt bei.

Von Pulverdampf und Blutrache ist in dem pittoresken Ostseestädtchen mit seinen 200 Fachwerkhäuschen nur noch bei der jährlichen Mittelalterwoche im August (www.medeltidsveackan.se) ein Hauch zu spüren. Und wie der politische Kampf in Schweden heute aussieht, kann man bei der traditionellen Almedalens-Woche im Juni betrachten, wenn sich alle acht im Reichstag vertretenen Parteien an acht Tagen im Juni ein Stelldichein im Alten Hafen, dem Almedalen-Park geben – ein friedliches Polit-Bürgerfest, an dem sich die Bevölkerung mit großer Debattenfreudigkeit beteiligt (siehe dazu die zwei eigenen Artikel).

Der Almedalen mit dem Meer im Westen und der Stadtmauer im Osten ist übrigens auch ein schöner Ausgangspunkt für einen Entdeckungsspaziergang. Nirgends wird der doppelte Charakter der Hansestadt als Festung und Seehafen sichtbarer. Lilla Strandporten war einst das wichtigste Tor zwischen Hafen und mittelalterlicher Stadt, das direkt zum Marktplatz, dem heutigen Packhusplan führte. Am einen Ende des Platzes befand sich die monumentale Stadthalle, das Weinhaus, von dem nur die Fundamente übrig sind.

Radlpause am Packhusplan.

Der Packhusplan ist nach den mittelalterlichen Lagerhäusern benannt, von denen einige noch erhalten sind. Eine solche Markt-Halle befand sich im Vinhuset oder auch Kalbsfellhaus vom Ende des 13. Jahrhunderts. Das Kellergewölbe bestand aus 24 Gewölben, die von 14 Steilpfeilern getragen wurden. Acht Doppel-Treppen führten von hier hinauf zur Strandgatan (mit dem sehenswerten Landesmuseum Fornsalen, www.lansmuseetgotland.se) und dieselbe Zahl rauf zum mittelalterlichen Marktplatz. Der Name Kalbsfellhaus rührt von der Sage, dass König Birger Magnusson den Stadtplatz ausmaß, indem er eine Kalbshaut in sehr dünne Streifen schnitt, bis sie eine große Fläche einschloss, wie zuverlässige Quellen berichteten.

Besonders prachtvolle Beispiele für einen Fachwerkbau sind das um 1650 für den Lübecker Kaufmann Hans Burmeister errichtete Burmeisterska Huset und das Donnerska Huset am Donners Plats sowie die schöne Gamla Apoteket in der Kyrkogatan. Die einzig in aller gotischen Pracht erhaltene St. Maria Kyrka liegt etwas erhöht auf einem Kalksteinplateau in der westlichen Altstadt – schon von weitem machen ihre drei (!) kuriosen Türme mit den schwarzen Barockhauben neugierig. Die 1225 geweihte dreischiffige Basilika der deutschen Kaufleute wartet noch mit einigen Überraschungen auf. Die zwei zusätzlichen Vierecktürme wurden schon 30 Jahre später ergänzt, die Mauern der Seitenschiffe nach außen versetzt, das Mittelschiff erhöht. Um 1450 setzten die tüchtigen Händler noch einen Speicherboden darauf.

Ruine der gotischen Katharinenkirche.

Die vielen Kirchenruinen – 13 an der Zahl – „verdankt“ die Stadt 1525 einem Angriff von Truppen der Hansestadt Lübeck – mit Ausnahme der deutschen Kaufmannskirche St. Marien, dem heutigen Dom St. Maria, wurden alle Gotteshäuser bis auf die Grundmauern zerstört. Die Ruine der gotischen Katharinenkirche, um 1255 fertiggestellt, gehörte zu Schwedens erstem Franziskanerkloster, gegründet 1233 in Visby. Die Ruine von St. Lars aus dem 13. Jahrhundert, gewidmet dem im 3. Jahrhundert gerösteten Heiligen Laurentius, ähnelt anders als die deutsch inspirierten übrigen Kirchen einem byzantinischen Bau. Sie wurde nach der Reformation im 16. Jahrhundert aufgegeben.

Auch die Drotten-Kirche stammt aus dem 13. Jahrhundert und ist der Hl. Dreieinigkeit geweiht – Drotten ist ein altes nordisches Wort für Herr und Herrscher. Die Kanzel ist mit Hundezahn-Gravierungen und einem Anglo-normannischen Zickzack-Muster geschmückt, das es nirgendwo sonst auf Gotland gibt. Die Ruine St. Peter von Mitte des 12. Jahrhunderts stellt den Rest der einst größten Kirche in Visby dar. Sie befand sich im südlichen Teil der Altstadt. Daneben fristet die Ruine von St. Johannes von Anfang des 13. Jahrhunderts ihr luftiges Dasein. Die beiden Kirchen teilten sich eine Wand – beide verfielen nach der Reformation im 16. Jahrhundert.

Eines der ältesten Stadttore Visbys ist das Kaisertor.

Visby kann man durch viele Tore betreten. Eine würdige Option ist der „Kaiser und das Kaisertor“: Der älteste noch erhaltene Turm, der zeitgleich mit der Mauer gebaut wurde, diente sowohl als Speicher als auch der Verteidigung. Als einziger besitzt er auch auf der Stadtseite ein Mauerwerk. Mit ursprünglich fünf Stockwerken war er ursprünglich höher und besitzt ein Kreuzgewölbe. Anstatt Schützenlöcher verfügt er nur über Lichtschlitze. Vom Ende des 17. Jahrhunderts bis etwa 1850 diente er als Gefängnis.

Wenn wir dem Verlauf der Stadtmauer Richtung Süden folgen, treffen wir auf die so genannte Valdemarsmauer zwischen dem Muntheschen Haus und dem Südtor – sie hat als einziges Teilstück Zinnen. Ihren Namen hat sie sich verdient, weil sie nach dem Überfall des dänischen Königs Valdemar Atterdag 1361 errichtet worden sein soll. Das in die Mauer einbezogene Munthesche Haus mit alten Malereien ist eines der besterhaltenen Gebäude aus dem 13. Jahrhundert. Es diente wohl, später aufgestockt, als Turm.

Fernweh am Hafen von Visby: Der Blick schweift in die Ferne jenseits der Ostsee.

Ein in die Ostmauer integriertes, ursprünglich dreistöckige Steinhaus von Mitte des 13. Jahrhunderts wurde im 19. Jahrhundert als Teerkocherei zum Imprägnieren der Taue aus der Reepschlägerbahn in der südlichen Mauerstraße verwandt. Norderport, Söderport und Österport waren die drei Hauptzugänge nach Visby. Hier wurden die Agrarprodukte für den Markt verzollt. Der fünfstockige zinnenbewehrte Turm stammt aus dem 13. Jahrhundert – mit Feuerstelle und Umkleideraum, der dokumentiert, dass der Turm ständig bewacht wurde. Bis 1878 gab es hölzerne Portale. 1610 zerstörte ein Feuer die oberen Stockwerke.

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