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Apéritif: Das kleine Britannien

„Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien?“ Mais non, ein kleiner Zipfel im Westen Frankreichs leistete erbitterten Widerstand: Was wir aus Asterix als Gallien kennen – in Frankreich werden solche Bandes dessinées (BD), also gezeichnete Streifen, auch in Intellektuellenkreisen geschätzt – trifft im Quadrat auf die Bretagne zu. Dessen keltische Bewohner sprachen, und einige Nachfahren sprechen es noch, jenes Gälisch, das dem Land seinen Namen gab, und deren Kult René Goscinny und Albert Uderzo zu herrlichen Schnurren anregten: Gingen die kilometerlangen Menhirreihen von Carngac etwa auf die vorübergehende Geschäftstüchtigkeit des dicken Galliers mit den roten Zöpfen in „Obelix GmbH & Co.KG“ zurück? Legte der Mann mit dem großen Appetit auf Wildschweine und Römer hier das größte Hinkelsteinlager der westlichen Hemisphäre an?

Die wissenschaftliche Wirklichkeit ist kaum weniger spekulativ: Man vermutet religiöse Kulte jenes Volksstammes, der für seine hervorragenden astronomischen Kenntnisse gerühmt wurde. Schon vor mindestens 6500 Jahren –- so alt sind die steinernen Zeitzeugen in und rund um Cargnac und damit gut 1000 Jahre älter als die älteste ägyptische Pyramide –- konnten die Druiden den Zeitpunkt einer Sonnenfinsternis exakt bestimmen. Nutzten sie das beeindruckende Naturschauspiel wie bei Stonehenge, wo die Sonne zuerst wie von Zauberhand gelenkt raffiniert arrangierte Öffnungen der gigantischen Felsbrocken zum Erstrahlen brachte, um dann zu erlöschen? Was waren die Motive der weißbärtigen Würdenträger? Wollten sie die Macht der Götter vor Augen führen oder nutzten sie ihre Kenntnisse zur Festigung ihrer eigenen Macht?

Europas Westende

Die Bretagne, das Westende Europas, mit 2863 Kilometern zerklüfteter Atlantikküste mit rosa Granitformationen, geheimnisvollen Reihen vonMenhiren, trutzigen Burgen und geschäftigen Hafenstädten ließ sich nie gerne vereinnahmen – nicht von Cäsar, nicht von den französischen Königen, und auch heute nicht von Touristenheeren, die nur auf Sonne, Sehenswürdigkeiten und Souvenirs aus sind. Der Kelte im Bretonen hat seinen eigenen Kopf mit eigener Sprache und eigener Musik (zum Einhören „Bretagne – Les titres Essentiels“ mit bekannten Interpreten der bretonischen Keltenszene wie Soldat Louis, Alan Stivell, Tri Yann, Dan ar braz u.v.m.). Tout ensemle entspricht das einer Atmosphäre, die irgendwo zwischen Druidenzauber, gallischem Savoir-Vivre und britischer Coolness pendelt. Ein paar französische Brocken reichen, um den gastfreundlichen Bretonen ein anerkennendes „vous parlez très bien français“ zu entlocken.

Am Fensterbrett oder an der Türschwelle unseres bretonischen Bauerhauses mit Familienanschluss – Jungkater „Teufelchen“ kommt zu jeder Tag- und Nachtzeit, die Gänsefamilie mit umschnattertem Nachwuchs holt sich leckeren Salat, die schwarze Schafsfamilie mäht freundlich zur Begrüßung und Bersennenhund Gourmand hofft auf ein paar leckere Happen – finden sich fast täglich Zucchini, Kirschen oder Madelaines à la Grandmère, natürlich mit der gesalzenen bretonischen Butter.

Die besten Gespräche finden spätabends zwischen Fenster und Hof statt. Tagsüber arbeitet Loïc bei der Telekom und Brigitte bei der Gemeinde. Der Bio-Bauernhof ist ein Hobby der beiden gebürtigen Bretonen. „Oh là là“, schüttelt Loïc die rechte Hand, wenn man auf die Preise in der Region zu sprechen kommt. „Die Pariser und die Briten treiben sie in die Höhe“, meint der drahtige, stets lächelnde Mann. 150.000 Euro für den großen Hof scheinen ihm übertrieben, aber es sei eben nicht leicht gewesen, genau das Richtige für die eigenen Ansprüche zu finden: ein Stall für die Ziege, die Hühner, die Truthähne, einer für die Gänse, für den Hund – jedes Tier bewohnt sein Appartement, wenn es nicht frei draußen rumläuft.

Wohnen im Bauernhaus –- WM-Viertelfinale inklusive

Auf den Mietpreis haben die Stoccos die kleine bretonische Immobilienblase jedenfalls nicht umgelegt: 270 Euro die Woche für unseren stattlichen Teil des großen ursprünglichen Natursteinhauses, das Brigitte mit viel Geschmack eingerichtet und behutsam für moderne Bedürfnisse angepasst hat. Was soll man sagen, bei der Ankunft am Samstag erwartete uns bereits der Flachbildschirm mit dem denkwürdigen WM-Viertelfinale Deutschland-Argentinien … Gefeiert wurde die 0:4-Klatsche der Großmaulgauchos mit hauseigenem Cidre.

Den Internetanschluss für die Liveberichterstattung gab’s von der Kabelrolle und als sich unser Netbook sträubte, stand schon das französische Leihgerät parat. Es sind die Details, die einen sofort innerlich die Beine ausstrecken lassen: die hellgrauen Deckenbalken, das Mohnblumengemälde der Hausherrin über der Treppe, das bretonisch-schwarze Waschbecken mit praktischem Unterschrank, eine Dusche, in der eine Fußballmannschaft bequem feiern könnte – sogar der Schwarm gälischer Fliegen und unschätzbare Insider-Tipps sind schon inkludiert: „In Nantes müsst ihr den Elefanten anschauen“, lacht Loïc. Wie, den Elefanten? Einen lebendigen? Ein Gebäude mit diesem Spitznamen? „Der Elefant ist ein hausgroßes technisches Kunstwerk, das sich bewegt, Teil eines täglichen Spektakels mit Stelzengängern und anderen Fantasiegestalten, die Motive Jules Vernes aufgreifen.“ Die Kunstwerke entlang der Loire-Mündung bis zum Hafen von St. Lazaires hätten wir ohne die begeisterte Schilderung unserer Gastgeber wohl auch kaum gesucht: ein Haus auf dem Wasser, eine gigantische Ente et cetera et cetera.

Very british –- très bretonique

Schon der erste Eindruck, sobald man durch eine Stadt fährt: very british – oder sollte man besser sagen, dass die towns auf der Insel très breton aussehen? Der vorherrschende Farbton ist das Schiefergrau der Natursteinhäuser. Markante Schornsteine flankieren beide Giebel. Und dann natürlich die frische Brise vom Meer, selbst wenn man, wie wir heuer einen Jahrhundertsommer mit untypischen 30° Celsius im Schnitt erwischt hat, und der Geruch nach Brakwasser, Motoröl und Fisch aus dem Hafen.

Nirgends lässt sich diese Seemannsromantik besser erleben, als wenn an einem Samstag mehr oder minder rüstige Bretonen in Le Croisic ihre Akkordeons und Gitarren hervorholen und sich am Hafen zu tanzenden Boygroups formieren. Nicht nur Musette liegt in der Luft, wenn die Herren ihr gesungenes Garn zum Besten geben, mit den alten Mädchen schäkern und ihre Stimmbänder mit einigen Karaffen Cidre ölen.

Jetzt glauben Sie aber nur nicht, in der Bretagne würden sich nur die ausgesprochenen Alternativtouristen verirren! Auch das kleine Britannien hat seine Rothenburgs ob der Tauber, durch die sich Ströme glückselig grinsender meist Franzosen und Briten schieben, um sich in einem der zahllosen Touristenshops ein Matrosen-Ringelshirt, Karamellen aller Variationen, Sardinen in sammlerverdächtigen Dosendesigns, das bretonische Salz oder wohlriechende, farbenfroh marmorierte Naturseifen einpacken zu lassen. Guérande ist ein Musterbeispiel für solch ein Kulturidyll, eingerahmt von einer mittelalterlichen Stadtmauer, die man durch ein giganteskes Stadttor betritt, dessen zwei bullige Rundtürme bedrohlich zusammengerückt sind. Schließlich schützen sie ein schmuckes Städtchen, in dessen Kirche sich Herzog Jean IV. seinen bretonischen Machtanspruch im zweiten Vertrag von Guéron sichern ließ.

Sobald du, Gast, dieses Tor betrittst, lasse alle Vorsätze fahren, lass’ dich treiben im milden Strom gutwilliger Compagnons, bestaune die putzigen Fachwerkhäuser, deren Holzbalken in allen Farben leuchten, entdecke die versteckten Steinornamente an mittelalterlichen Häusern mit grinsenden Fratzen und lasse dich in einer der allgegenwärtigen Crêperien zum bretonischen Nationalmenü verführen: einer deftigen Galette aus dunklem Buchweizen, gerne mit Lachs und Crême fraÎche kredenzt, einem süßen Crêpe, etwa mit Maronenpaste und Pistazieneis und natürlich einer Tasse Cidre dazu – daraus wird traditionell der meist trocken, also brût, genossene Apfelwein getrunken.

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