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Ära des Terrors

„Der Regen kam am dritten Tag nach den Toden“, dichtet der als „Wall Street-Poet“ bekannte Eugene Schlanger. Mit Gedichten verarbeitet der New Yorker seine Gedanken und den Tod eines Freundes. In „The Rain“ (Der Regen) schreibt er: „Tausende vermisst in den Trümmern der zwei Türme, die für Amerikas Wohlstand und Erfindergeist standen.“

„Historische Einschnitte kündigen sich selten mit Marschmusik an“, lehrte der Regensburger Politikprofessor Mathias Schmitz im Hauptseminar. Der 11. September 2001 ist so eine Ausnahme, die die Regel bestätigt: Mit einem terroristischen Urknall radierten die vier entführten Linienflugzeuge an diesem wolkenlosen New Yorker Dienstag die trügerische Gewissheit aus, dass die Bürger westlicher Demokratien zumindest keine Kriegsgefahr fürchten müssen.

New York am 11. September 2011.


Eine neue Dimension des Terrors

Eine neue Generation globaler Killer macht sich die kapitalistische Devise „think big“ auf zynische Weise zu eigen. Der Anschlag 4.0 als Medienspektakel, die Opfer wahllos, ob Atheist, Buddehist, Christ, Jude oder Muslim spielt keine Rolle. Für einen Moment schien die Welt still zu stehen: Wo immer man das Symbol für diese Zäsur zuerst sah, die Menschen vor den TV-Bildschirmen blickten ungläubig auf die gespenstische Szenerie.

Mein „Newsroom“ damals war bei einem tschechischen Kollegen in Prag: Für einen Moment flogen diesem Land in diesem Moment die Herzen zu: Was Politiker in solchen Augenblicken meist unglaubwürdig formulieren: „Wir sind mit den Gedanken bei den Opfern“, traf an diesem Herbsttag fast rund um den Globus zu. Selbst gestandene Anti-Amerikaner konnten sich eines Anflugs von Empathie nicht erwehren. Und man konnte an diesem Tag in Prag spüren, dass Tschechien einmal Teil einer Koalition der Willigen sein würde.

Für einen kurzen Moment der Geschichte hatte selbst George W. Bush die Chance, zum Staatsmann zu reifen. Hätte dieser ehrgeizige Sprössling der Bush-Dynastie während dieses Momentums, auf dem die Kugel auf der Spitze balancierte, und in jede Richtung hätte rollen können, innegehalten und eine weise Entscheidung getroffen – fast alle Vertreter der Vereinten Nationen wären ihm gefolgt. Hätte Bush schlicht die wahrhaftigen Erkenntnisse der Geheimdienste als Entscheidungsgrundlage genommen, dann wäre der 11. September 2001 auch der Tag, an dem die Staatengemeinschaft eine gemeinsame Strategie gegen den Terror entwickelt hätte.

George W. Bush mit amerikanischen Soldaten.

Verhängnisvolle Entscheidung
Die Bush-Administration hat sich anders entschieden. Die republikanischen Thinktanks nutzten die Gelegenheit, um eine alte Rechnung mit Saddam Hussein zu begleichen – vielleicht gefiel sich der Junior in der Rolle des Vollenders der väterlichen Mission, vielleicht spielten die Ölinteressen eine entscheidende Rolle. Jedenfalls forcierte die US-Regierung ein abgekartetes Spiel mit gefälschten Beweisen, um eine Legitimation für einen zweiten Irak-Krieg zu bekommen. Das Trauerspiel, dass Außenminister Colin Powell wider besseren Wissens die ganze Welt live belügte, ist der endgültige Wendepunkt. Der anerikanische Kredit nach 9/11 war verspielt. Was folgte, sind zwei Interventionen mit verheerenden Folgen.

2. Irakkrieg ab 20. März 2003:

· Eine Studie der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift Lancet geht im Zeitraum von Januar bis Dezember 2003 von 39 000 getöteten Zivilisten im Irak aus.

· Laut ORB (Opinion Research Business) sind von März 2003 bis August 2007 zwischen 946 000 und 1.120.000 Iraker ums Leben gekommen.

· Von Kriegsbeginn bis 2012 wurden nach US-amerikanischen Schätzungen 4.804 Soldaten der Koalition der Willigen, davon 4486 Amerikaner, und 10.125 irakische Soldaten und Polizeikräfte getötet.

Die US-geführte Intervention in Afghanistan zugunsten der verbliebenen bewaffneten Opposition stürzt im Herbst 2001 die Talibanregierung:

· Obwohl die Intervention von der afghanischen Bevölkerung mehrheitlich begrüßt wurde, gelang es der in den pakistanischen Rückzugsgebieten neu formierten Talibanbewegung, wieder in Afghanistan Fuß zu fassen.

· Die US-amerikanische Brown Universität listet auf, wie viele Todesopfer der Afghanistan-Krieg seit 2001 gefordert hat. Das Ergebnis: Rund 68.000 Menschen haben ihr Leben verloren, seit die internationalen Truppen in das Land eingerückt sind.

Der Tirschenreuther Arzt Dr. Reinhard Erös

Wasser auf die Mühlen der Extremisten
Es verbietet sich, Opfer gegenseitig aufzurechnen. Dennoch ist klar: Wenn der alliierte „Krieg gegen den Terror“ um ein Vielfaches mehr an Opfern unter der Zivilbevölkerung fordert als die grausamsten Terroranschläge so lässt sich das kaum moralisch legitimieren. Die Vorgehensweise des Westens ist Wasser auf die Mühlen der Extremisten – sie können sagen: „Seht, so verhält sich der Satan, predigt Menschenrechte und mordet eure Kinder!“

Wäre dieses außenpolitische Konzept wenigstens erfolgreich, könnten Machiavellisten behaupten: Die Kollateralschäden sind nötig, um die Freiheit des Westens am Hindukusch und im Zweistromland zu verteidigen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Intervention im Irak hat die gesamte Region destabilisiert und den Erfolg des Islamischen Staates erst möglich gemacht – mit dem Knowhow sunnitischer Militärs und Geheimdienstler des Hussein-Regimes.

Dass mit der Flüchtlingswelle der vergangenen Jahre die vom Westen mitverursachte Krise im Nahen Osten inzwischen in Europa angekommen ist, muss niemand wundern. „Deutschland lockt Flüchtlinge nicht mit unangemessen hohem Taschengeld zu uns“, sagt Reinhard Erös. „Eine kurzsichtige, häufig kontraproduktive Außen- und Entwicklungspolitik ist es, die Millionen zur Flucht nötigt“, bilanziert der Tirschenreuther Gründer der Kinderhilfe Afghanistan.

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