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Olaf Palmes Erbe in Visby

Besonders wohl scheint sich Fredrik Reinfeldt beim bevorstehenden Rendezvous mit dem Volk nicht zu fühlen. Während die Parteijugend der Moderaten auf der Bühne einen merkwürdig unkoordinierten Freudentanz aufführt, seine Begleiter zu rockigen Klängen frenetisch klatschen, steht der Minister hinter der Inszenierung in Blau, die den Führer der konservativen Koalitionsregierung auch beim Livemitschnitt ganz im Lichte seiner Parteifarben zeigen soll.

Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt erklärt seine Reformpolitik bei der Almedalen-Veckan 2012.

Der Adjutant, ein nervöser junger Mann, der abwechselnd seinen dünnen Bart zupft oder aufs iPhone starrt, schleicht mit Plastikschonern über den heiligen Boden, dessen Strahlkraft durch keinen Fußabdruck getrübt werden darf, um die Rede des Chefs aufs Pult zu legen. Zwei Polizisten scheuchen genervt Fotografen weiter, die das Absperrband über Gebühr dehnen. Eine Parteisoldatin überzeugt mit energischem Charme die Sicherheitsleute davon, weiteren prominenten Claqueuren Zugang zum inner circle zu gewähren.

Der Park ist knallvoll, davor kann man die Rede des Regierungschefs auch auf der Großleinwand verfolgen.


„Fredrik?“ – „Frrreeeeederrriiiik!“

Der Moderator lässt seine Stimme wie ein Boxpromoter zu einem Crescendo anschwellen: „Frrreeeederrriiiik Reiiiiinfeldt“… Angespannt schreitet der Politstar, dessen Popularität zur Legislaturhalbzeit deutlich gesunken ist, ans Rednerpult und sagt bei freundlichem Applaus eher verlegen: „Joo.“ Nirgends ist der Gegensatz zwischen dem traditionell egalitären Demokratieverständnis der Schweden und der modernen Inszenierung der Eliten so greifbar wie bei der Hauptveranstaltung an diesem Almedalen-Dienstag, 19 Uhr.

Tausende Schweden füllen den zu einem Park umgewandelten alten Hafen von Visby mit dem Meer im Norden und der Stadtmauer im Süden. Als der kahlköpfige, unscheinbare Mann mit blauem Freizeitanzug, hellblauem Hemd ohne Krawatte, aber mit Leibwächtern und Familienanschluss durch die Absperrungen in den Backstage-Bereich geleitet wird, raunen sich einige Pressevertreter halb ehrfürchtig, halb wissend „Fredrik“ zu.

Die Entourage hört gespannt mit.


Genesen am deutschen Ausbildungswesen

Reinfeldt, der wie Bundeskanzlerin Angela Merkel populärer als seine Regierung ist, knüpft bei seiner Rede nicht von ungefähr an dem legendären Bündnis von Politik, Arbeitgebern und Gewerkschaften an, das in den 1930er Jahren das Schwedische Harmoniemodell begründete: „Die hohe Jugendarbeitslosigkeit von etwa 20 Prozent ist ein brennendes Problem“, nimmt der Ministerpräsident die vielen Jugendlichen unter den Zuhörern ins Visier.

Bei seiner Rede fällt auffällig oft das Wort Tyskland, Deutschland. Am deutschen Ausbildungs- und Lehrlingssystems möchte sich die Koalition orientieren. „Wir möchten zusammen mit Arbeitgebern und Gewerkschaften einen Job-Pakt schließen, um kombinierte Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu schaffen.“ Vor allem für die weniger theoretisch, dafür aber praktisch veranlagten Jugendlichen gebe es bisher zu wenig Perspektiven. Von einer Senkung der Arbeitgeberabgaben und Anreizen für die Ausbildung verspricht sich der Konservative die Schaffung von 30.000 Stellen.

Die verborgene Kraft formiert sich in Pink.


Die verborgene Kraft

Es kostete einige Selbstüberwindung, über die Füße von hunderten, dicht gedrängten Zuschauern hinweg die Lücke aus diesem Trubel zu suchen. Vom Regen in die Traufe: Kaum hat man wieder Boden ohne Zehen unter den Schuhen drängt sich schon der nächste Auflauf vor der Großbildleinwand, auf der Fredrik vor leuchtendem Blau gerade den Ausweg aus der europäischen Schuldenkrise erklärt: „Tyskland …“!

Auch an Bord wird weiterpalavert.

Der Kontrast zwischen dem konservativem Welterklärer in azurener Übergröße und dem Grüppchen mit ihren knallpinkfarbenen T-Shirts könnte nicht größer sein. „Den dolda kraften“ prangt auf ihrer Brust unter einem Piktogramm von vielen Menschen und über einem Pfeil der nach links zeigt, dort wo das Herz ist. Und in der Tat „Die verborgene Kraft“ scheint jetzt zu wachsen und sich zu formieren und immer mehr Pfeile zeigen in eine andere Richtung als die des Ministerpräsidenten, weg vom Almedalen, hin zu einer Veranstaltung, die die soziale Gerechtigkeit thematisiert. Ein Anliegen, das den über 70 Jahre sozialdemokratisierten Schweden schwer im Magen liegt, seit die Wirtschaftskrise in den 1990er Jahren das System schwer ins Wanken gebracht hatte. Schmerzhafte Einschnitte waren die Folge, der Sturz der unbesiegbaren Socialdemokraterna. Viele denken: Jetzt muss aber auch mal wieder Schluss sein mit den Reformen.


Acht Tage für acht Parteien

Die Almedalen-Woche vereint alle Gegensätze, die eine pluralistische Gesellschaft aushalten muss – außer natürlich den undemokratischen nur in der Wolle gefärbten Schwedendemokraten, die haben hier nichts verloren. Acht Tage für acht Parteien, seit es eine achte Partei in den Reichstag geschafft hat, das ist die eine Seite des politischen Wettbewerbs. Auf der anderen Seite zeigt die schwedische Gesellschaft die ganze Palette ihrer organisierten Vielfältigkeit: Über 800 Organisationen laden zu gut 1500 Veranstaltungen, Diskussionen, Workshops und Vorträgen ein, zu denen etwa 15.000 Besucher erwartet werden – alles frei zugänglich und kostenlos.

Olaf Palme (rechts) begründete mit seiner Rede 1968 die Tradition der politischen Almedalen-Woche in Visby.

Seit Olaf Palme, der den Sommerurlaub mit Familie seit vielen Jahren auf Gotlands kleiner Nordinsel Fårö verbrachte, 1968 seine legendäre Rede in Visbys Almedalen hielt, konnte es sich kein Parteivorsitzender mehr erlauben, KEINE Grundsatzrede in Visby zu halten. So wuchs über Jahrzehnte das Symbol für Schwedens Demokratieverständnis und die Gäste aus der ganzen Welt wurden immer prominenter. Eines aber blieb: Der Charakter eines Bürgerfestes, die freundliche Atmosphäre eines Familienausflugs ohne sichtbare Sicherheitshysterie und die Lust der Schweden, der allgegenwärtigen europäischen Politikverdrossenheit zu trotzen.

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