Kiew/Brüssel (dpa) – Mit der ukrainischen Gegenoffensive geht Russlands Angriffskrieg aus Sicht von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in eine «kritische Phase». Ukrainische Streitkräfte seien dank der Unterstützung aus Nato-Staaten zuletzt in der Lage gewesen, Moskaus Offensive im Donbass zu stoppen und Territorium zurückzuerobern, erklärte der Norweger am Freitag in einer Pressekonferenz mit US-Außenminister Antony Blinken. Die Solidarität des Westens dürfe nun trotz Energiekrise und steigender Lebenshaltungskosten nicht nachlassen.
Zweifel weckte Stoltenberg an deutschen Argumenten gegen die Lieferung großer Mengen Bundeswehr-Waffen an die Ukraine. Auf die Frage, ob Alliierte eher Fähigkeitsziele des Bündnisses erfüllen sollten, als der Ukraine noch mehr Ausrüstung zu liefern, machte er deutlich, dass er eine Niederlage der Ukraine für gefährlicher hält als unter Plan gefüllte Waffenlager von Nato-Staaten.
«Der Preis, den wir zahlen, wird in Geld gemessen. Der Preis, den die Ukrainer zahlen, wird in Leben gemessen», sagte Stoltenberg. Wenn die Ukraine aufhöre zu kämpfen, werde sie «als unabhängige Nation nicht mehr existieren», warnte er. Deshalb müsse man am bisherigen Kurs festhalten – «um der Ukraine und um unser selbst willen».
Auch nach Einschätzung von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin macht die Ukraine bei ihrer laufenden Gegenoffensive Fortschritte. «Wir sehen jetzt Erfolge in Cherson, wir sehen einen gewissen Erfolg in Charkiw – und das ist sehr, sehr ermutigend», sagte der Ex-General am Freitag am Rande eines Besuchs in Prag.
Die ukrainische Armee war zuvor im Osten des Landes tief in den Rücken der russischen Besatzungstruppen vorgedrungen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte am Donnerstagabend die Rückeroberung der Kreisstadt Balaklija im Gebiet Charkiw bestätigt. Die Armee habe seit Anfang September mehr als 1000 Quadratkilometer der Ukraine befreit, sagte er in seiner Videoansprache. «Die Ukraine ist und wird frei sein», versprach er. Allerdings halten russische Truppen nach früheren Angaben etwa 125 000 Quadratkilometer in der Ukraine besetzt. Das ist ein Fünftel des Staatsgebietes einschließlich der Halbinsel Krim. Der Freitag ist der 198. Tag des Krieges.
Blinken: Ukraine muss in bestmöglicher Lage für Verhandlungen sein
Die USA wollen die Ukraine in ihrer Gegenoffensive gegen Russland in eine starke diplomatische Verhandlungsposition bringen. «Wir sehen in diesem Moment keine Anzeichen von Russland, dass es bereit ist, eine solche Diplomatie ernsthaft zu betreiben. Aber wenn dieser Zeitpunkt kommt, muss die Ukraine in der bestmöglichen Position sein», sagte Blinken am Freitag nach einem Treffen mit Stoltenberg. Blinken lobte die ukrainische Offensive und Geländegewinne im Süden und Osten des Landes als «echte Fortschritte». Es sei noch zu früh zu sagen, wie sich die Lage entwickeln werde. Die Moral der ukrainischen Soldaten sei aber deutlich höher als die der russischen Streitkräfte.
Russische Besatzer evakuieren weitere Orte in Region Charkiw
Angesichts der ukrainischen Gegenoffensive evakuieren die russischen Besatzer eigenen Angaben zufolge weitere Orte im ostukrainischen Gebiet Charkiw. Zunächst sollen Isjum und Kupjansk geräumt werden, wie der Chef der von Russland eingesetzten Militärverwaltung, Witali Gantschew, laut der staatlichen Nachrichtenagentur Tass am Freitag sagte. Auch der Ort Welykyj Burluk stehe unter Beschuss, dort solle die Zivilbevölkerung ebenfalls an sichere Orte gebracht werden.
IAEA: Lage im AKW Saporischschja immer prekärer
Die Lage im umkämpften ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja wird unterdessen laut internationalen Beobachtern vor Ort immer instabiler. Die Anlage habe keine externe Stromversorgung mehr für die Kühlung von Reaktorkernen und Atommüll, berichteten am Freitag Experten der Internationale Atomenergiebehörde (IAEA). Der Grund sei der Beschuss und die Zerstörung des Umspannwerkes in der nahen Stadt Enerhodar. «Die Situation ist untragbar, und sie wird immer prekärer», sagte IAEA-Chef Rafael Grossi in Wien. Er forderte erneut die Einstellung aller Kampfhandlungen und die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone, um einen Atomunfall zu verhindern.
Der ukrainische Kraftwerksbetreiber erwäge nun die Abschaltung des letzten der sechs Reaktorblöcke dort, sagte Grossi. Da es in Enerhodar kein fließendes Wasser und keinen Strom mehr gebe, bestehe auch ein großes Risiko, dass bald nicht mehr genügend ukrainisches Personal für den sicheren Betrieb der Anlage zur Verfügung stehe.
Polnischer Ministerpräsident Morawiecki reist nach Kiew
Zu Beratungen über die geopolitische Lage, militärische Entwicklung und Energiesicherheit reiste Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki überraschend nach Kiew. Dort nehme Morawiecki auch an einer Konferenz teil, sagte sein Regierungssprecher Piotr Müller am Freitag im polnischen Fernsehen. Für den Politiker der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist es der dritte Besuch in der Hauptstadt des Nachbarlandes seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die Reise sei vor allem ein politisches Signal an den Kreml, betonte Müller. «Die Verteidigung der Ukraine ist auch die Verteidigung unserer Sicherheit.»
Putin und Erdogan wollen nächste Woche über Getreide-Abkommen reden
Nach seiner Kritik am Abkommen über den Export von ukrainischem Getreide will Russlands Präsident Wladimir Putin sich darüber Ende kommender Woche mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan austauschen. Die Exportvereinbarung war im Juli unter türkischer Vermittlung zustande gekommen, nachdem Millionen Tonnen Getreide wegen des Krieges in ukrainischen Häfen blockiert waren. Erst vor wenigen Tagen drohte Putin nun indirekt damit, sie wieder platzen zu lassen. «Ein Gespräch von Putin und Erdogan ist möglich und notwendig und wird bereits vorbereitet», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge am Freitag mit Blick auf einen Gipfel in Usbekistan in Zentralasien in der kommenden Woche.
Bericht: Hunderte Milliarden für Wiederaufbau der Ukraine nötig
Der Ukraine-Krieg hat in gut drei Monaten bereits einen Schaden von mindestens 97 Milliarden US-Dollar (96,4 Mrd Euro) verursacht. Das geht aus einem am Freitag veröffentlichten Bericht von ukrainischer Regierung, Weltbank und Europäischer Kommission hervor. Der Berechnungszeitraum ersteckt sich vom Kriegsbeginn am 24. Februar bis zum 1. Juni. Als am stärksten beschädigt gelten die Gebiete Donezk, Luhansk und Charkiw. Die in diesem Zeitraum durch den Krieg entstandenen finanziellen Verluste werden mit fast 252 Milliarden US-Dollar angegeben. Die Ukraine hatte bereits angekündigt, bei der UN-Vollversammlung Kriegsentschädigungen aus Russland von mindestens 300 Milliarden US-Dollar durchsetzen zu wollen.