Kiew, die „Hauptstadt der goldenen Kuppeln“ und das „Jerusalem des Nordens“, verdankt seine Beinamen den vielen Kirchen und Klöstern wie dem berühmten Höhlenkloster und der Sophienkathedrale, dem wiederaufgebauten Michaelkloster und der Alexanderkirche, einem Meisterwerk des ukrainischen Barock. Auch abseits dieser einzigartigen Kulturdenkmäler gibt es in der ukrainischen Hauptstadt vieles zu entdecken: Stille Gassen, lebhafte Märkte und immer wieder Spuren der langen und bewegten Geschichte.
Sophienkathedrale
Sie ist weiß, ihre Kuppeln sind dunkelgrün und golden – die Sophienkathedrale strahlt ein sonniges Selbstbewusstsein aus. Obwohl sie mit der Grundsteinlegung im Jahr 1037 von allen ostslawischen Kathedralen am meisten Jahre auf den dreizehn goldenen und dunkelgrünen Kuppelbuckeln hat, wirkt sie frisch.
Die vom Kiewer Fürsten Jaroslaw der Weise beauftragten Architekten ließen sich vom byzantinischen Chic der Hagia Sophia in Konstantinopel/Istanbul inspirieren: Sie planten die Kathedrale als fünfschiffige Kreuzkirche mit offener Galerie und zahlreichen leuchtenden Kuppeln. Auf und in die Innenausstattung wurde ebenfalls viel Wert gelegt: 260 Quadratmeter leuchtende Mosaike mit 177 Farbschattierungen und gut 3.000 Quadratmeter Fresken ließen Besucher staunen und die Brust der jeweiligen Herscher vor Stolz schwellen. Besonders die goldschimmernde Darstellung der Betenden Gottesmutter in der Apsis des Altars sowie des von den vier Erzengeln umgebenen Christus in der Zentralkuppel sorgen für Staunen über die Meisterschaft der Künstler.
Schade wär’s drum, wenn ein solcher Ort nicht ordentlich genutzt würde, und so wurden in der Sophienkathedrale sowohl religiöse, als auch weltliche Zeremonielle begangen: Die Kiewer Fürsten bestiegen den Thron und ließen ihren Machtanspruch absegnen, die Volksversammlung tagte, Staatsgäste wurden empfangen und umständliche Hofzeremonielle abgehalten. Sogar das allerletzte Zeremoniell, zu dem ein Fürst noch fähig ist: seine Beerdigung. Der Sarg des 1054 beigesetzten Auftraggebers Jaroslaw der Weise ist bis heute erhalten.
Mit dem Einfall der mongolischen „Goldenen Horde“ und dem Umzug des so genannten „Metropoliten“, ein Oberbischof der damaligen Zeit, nach Moskau, büßte die Schönheit an Bedeutung ein. Noch weiter bergab ging es durch die zerstörerischen Überfälle der Krimtartaren im 15. Jahrhundert. Es wurde höchste Zeit für ein umfassendes Lifting. Die Restaurierungen der nächsten zwei Jahrhunderte ließen die Kathedrale im wahrsten Sinne des Wortes über sich selbst hinaus wachsen: Auf die Außengalerie wurde eine Etage aufgesattelt und sechs Kuppeln im birnenförmigen Stil des ukrainischen Barocks hinzugefügt. Außerdem baute man gleich ein paar Gebäude mehr: einen prunkvollen Metropolitenpalast, ein beheizbares Refektorium („Warme Sophie“), ein Geistliches Seminar und einen imposanten Glockenturm. Nach einer weiteren Aufstockung im Jahr 1851 läuten dessen Glocken aus luftigen 76 Metern weit ins Land. Zumindest bis 1934 und wieder ab 1991, denn für diesen Zeitraum verordneten die kommunistischen Führer Dornröschenschlaf. 57 Jahre lang diente die Kathedrale als „Staatliches Reservat Sophien-Museum“.
Die erzwungene Umzug der Metropoliten von Kiew nach Moskau hatte unangenehme Spätfolgen: die beiden orthodoxen Patriarchate und die ukrainisch-katholische Kirche zankten sich um die sie. Zum Schluss und bis heute hat sie niemand der drei bekommen: die Sophienkathedrale wurde von der Ukraine kurzer Hand verstaatlicht und von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Doch auch das 21. Jahrhundert wartet mit Bedrohungen auf: Der Bau einer Tiefgarage und eines Schwimmbads mit Fitnesszentrums in unmittelbarer Nähe versetzten die Erdmassen, den Glockenturm und einzelne Gebäude in Bewegung. Risse entstanden, der Boden musste stabilisiert werden. Die nach wie vor leichte Neigung des Glockenturms fällt nur nach längerem Hinsehen auf.
Adresse: Volodymyrska 24
Andreassteig
Sie könnten sich das faustische Buch „Meister und Margarita“ von Mikhail Bulgakow mit in eines der Cafés am Andreassteig nehmen. Der Autor ist ein Sohn der Stadt und der Gasse, in der Sie gerade Kaffee trinken. Als Bronzemaske mit Fliege blickt Bulgakow von der Wand des Haus Nummer 13, wo der junge Mann sich von 1906 bis 1916 und von 1918 bis 1919 in die Bücher seines Medizinstudiums vertiefte.
Vor seinem Fenster, wo sich heute Bars und Cafés reihen und Künstler und Kitschhändler ihre Ware anbieten, herrschte seit jeher reges Treiben: Der Andreassteig ist eine der ältesten Gassen Kiews. Er verbindet die Untere Stadt (Podol), in der die Zünfte ihre Werkstätten betrieben, mit der Oberen. „Kiews Montmartre“ wird von einem eigenen Sacre Coeur überstrahlt: Die Andreas-Kirche, gebaut auf Befehl der Zarin Elisabeth von 1749 bis 1754. Die hochstrebenden weißen Türme und blauen Kuppeln mit Goldverzierung lassen sie wie ein Schatzkästchen wirken. Architekt Barholomeo Rastrelli und der Moskauer Bauleiter Ivan Michurin ist ein Kleinod des Ukrainischen Barocks gelungen, das bis auf eine Eigenheit wohl typisch genannt werden kann.
Die Ausnahme können Sie hören: Sie hören… nur Straßenlärm, keine Glocken. Denn als der Heilige Andreas nach Kiew kam, war der Dnjepr noch kein Fluss, sondern ein See. Ein in den Boden gerammtes Kreuz ließ das Wasser weichen, nur ein kleiner Rest blieb im Berg – als Quell tritt das Wasser unter dem Altar wieder aus. Würden Glocken läuten, würden die wilden im Berg verschlossenen Wasser geweckt und Kiew überfluten. Na, da sollen sie doch mal lieber nicht läuten, die Glocken. Und Sie bestellen sich noch ein Wasser, bevor‘s weiter geht? Ohne Kohlensäure. Ganz still. Am unteren Ende rechts geht es zur Bodenstation der Schwebebahn am Dnjepr-Ufer und dann hoch hinauf.
Höhlenkloster
Der Mönch Antonij aus Ljubetsch zog sich 1013 in eine Höhle am Dnjepr zurück, um dort zu beten und asketisch zu leben. Knapp vierzig Jahre später gründet er mit Gleichgesinnten ein orthodoxes Kloster sowie eine Kathedrale zu Ehren der Maria-Himmelfahrt. Aus der einen Höhle wurde ein Areal von Kirchen, Klöstern und heute auch Museeen: Das Höhlenkloster von Kiew, gebaut im ukrainischen Barock, stieg zu einer der einflussreichsten Kirchen der Kiewer Rus auf. Selbst der Einfall der Mongolen und das wirtschaftliche Erstarken Konstantinopels (heute Istanbul) konnte dem Glaubenszentrum nichts anhaben. Ende des 17. Jahrhunderts wurde die „WG“ der Mönche, die getrennt lebten, aber gemeinsam Messen feierten, sogar der seltene Ehrentitel „Lawra“ verliehen. Erst die Zeit des Kommunismus ließ die Klosteranlage am westlichen Ufer des Djepr verwaisen: Große Teile wurden zum Museum erklärt, die Höhlen selbst geschlossen und die Himmelfahrtskathedrale gar gesprengt – warum ist bis heute nicht abschließend geklärt. Lange galt die deutsche Wehrmacht als verantwortlich, aber auch eine Schandtat der Roten Armee wird in Erwägung gezogen. Dank eines Neubaus von 1998 bis 2000 zählt die Kathedrale, heute auch Mariä-Entschlafens-Kathedrale, zu den so genannten wieder geborenen Gotteshäusern der ehmaligen Sowjetunion.
Adresse: Sichnevoho Povstannya 21
Das ukrainische Barock
Dieses Schicksal teilt sie übrigens mit dem Mönchskloster Sankt Michael, ebenfalls auf der westlichen Seite des Dnjepr und ganz in der Nähe der Bergstation der Schwebebahn. St. Michael wurde geplündert, Schätze im Ausland verscherbelt, schließlich gesprengt und auf dem Gelände das bis heute existente Außenministerium sowie eine Sportanlage errichtet. Erst im Jahr 2000 wurde ein Nachbau fertig gestellt. Wie das Original ist die Kathedrale außen im ukrainischen Barock, innen mit byzantinischen Mosaiken gestaltet. Vor dem Eingangsportal erinnert eine Gedenktafel an Millionen Opfer des Holodomor (Hungertod) von 1932/33. Das Massensterben, das von einigen Ländern, darunter die USA, als Genozid bezeichnet wird, ist vermutlich auf eine Verkettung von schlechter Ernte, falscher Planwirtschaft sowie der Grausamkeit Stalins zuruckzuführen, dem am Tod von unliebsamen Gegnern gelegen war.
Das Erwachen aus diesem Alptraum geplagten Dornröschenschlaf wurde erst durch die von Staatschef Michail Gorbatschwow eingeleiteten Reformen Glasnost und Perestrojka möglich: Heute leben im Höhlenkloster wieder Mönche, die jährlich eine Million Touristen empfangen. Nicht nur die Kirchen, auch das Museum der historischen Kostbarkeiten der Ukraine, in dem kostbarer Goldschmuck und feinstes Kunsthandwerk ausgestellt wird, sowie der Titel UNESCO-Weltkulturerbe wirkt anziehend.
Adresse: Mykhailivska plosca
Goldenes Tor
Was die in Konstantinopel können, können wir auch: Das ist die Hauptaussage des Goldenen Tors in Kiew, dessen Bau – im Stil des Vorbilds in der Konkurrenzstadt – Großfürst Jaroslaw der Weise 1017 befahl. Zum zweiten hatte der Herrscher bei der Gottesmutter noch Schulden ausstehen: Für die finale Schlacht gegen die Nomaden, deren wiederkehrende Angriffe die Bewohner in Schrecken versetzten, hatte der Großfürst himmlischen Beistand erbeten und als Gegenleistung eine Kirche versprochen. Protzen und Demut, beides ist Jaroslaw gelungen: Nach sieben Jahren Bauzeit wurden die letzten Arbeiten an den mächtigen Mauern des Tors und der mit Fresken und Mosaiken geschmückten Mariä-Verkündigungs-Kirche fertig gestellt.
Gut 700 Jahre lang war das Goldene Tor der Hauptzugang zur Stadt, bis heute dient es als Kulisse für zeremonielle Anlässe. Das Licht des Sonnenaufgangs, das jeden Tag neu durch das Tor in die Stadt fiel, ließen die Kiewer das Tor auch als „Himmelspforte“ bezeichnen. Sie fühlten sich von Dunkel und Tod befreit und vor künftigem Unglück geschützt.
1240 gelang es den mongolischen Truppen des Batu Khan zwar, den Lack vom Goldenen Tor abzukratzen, doch sie gab nicht nach – leider war er so geschickt, über ein Hintertürchen hinein zu schlüpfen und das Tor massiv von Innen zu beschädigen. Im 18. Jahrhundert hatten die Kiewer vom ruinösen Anblick genug, schütteten Erde auf und ließen Gras über das Tor wachsen. 1832 machten russische Archäologen dies wieder rückgängig: Fünfzig Jahre später, pünktlich zum 1.500-jährigen Jubiläum der Stadt, wurde das restaurierte Tor enthüllt. In einem Museum kann man sich über die Geschichte der Stadt, die Jaroslaw übrigens ums zehnfache ihrer damaligen Größe ausdehnte, informieren.
Prachtstraße Kreschatik
Früher hätte man Sie hier auf Händen getragen, denn vor dem Bau der Kanalisation war die Kreschatik ein einziges lang gezogenes Schlammloch. Entweder man hatte Stelzen an den Füßen, keine Skrupel oder jemanden ohne Skrupel, der einen gegen ein paar Münzen trug. Doch dann kam der Granitstein und zum Ende des 19. Jahrhunderts die Wende: Exquisite Schneider, Feinkostläden und stilvolle Cafés zogen die Kultivierten, Geldigen und Neugierigen an. Zeitungen aus aller Welt waren hier zwei, manchmal drei Tage eher zu haben als im Rest der Stadt, die erste Tramlinie fuhr hier, wo früher die Fürsten dem Hirsch und dem Wildschwein hinterher gesprungen waren.
Die beiden Weltkriege zogen die Schöne übel in Mitleidenschaft, doch gleich nach 1945 starteten Renovierungsarbeiten. Längst ist sie wieder Flaniermeile, an Wochenenden und Feiertagen sogar für den Verkehr gesperrt – die Läden sind teuer, ja, aber Sie sollten sie gesehen haben. Und als der bescheidene Bürger von Welt: gesehen worden sein…