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Die grausame Schönheit der Cardinello-Schlucht

Am dritten Tag wollten wir erst mal durch die Cardinello Schlucht hinunter bis nach Chiavenna. Mir wurde eigentlich erst an diesem Tag so richtig klar, dass dies 26 Kilometer sind. Über Steine und Wurzeln – Pfade entlang, die nicht auf Kilometerleistung ausgelegt sind. Aber das schreckte uns zunächst nicht, denn an den beiden vorhergehenden Tagen war es kein Problem, etwa ein Drittel mehr als die empfohlene Tagesetappe zu gehen. Ohne diese Alternativplanung hätten wir auch nie das Hotel Rofflaschlucht oder die albergo vittoria kennen gelernt. Und so begannen wir auch diesen Tag diesbezüglich sorglos, ohnehin sollte es nur mehr bergab gehen.

Staumauer am Lago Montespluga.

Doch zunächst wanderten wir an einem frischen blauklaren Morgen das Westufer des künstlichen lago di Montespluga entlang, vorbei an Kühen, die wenig Angst einflößend die wärmende Morgensonne genossen bis hin zu einer Ziegenherde, die bei der Staumauer lange auf uns wartete. Sie nahmen Reißaus und liefen den Berg hinauf weg als wir das zwar nicht besonders spektakuläre aber deshalb nicht minder beeindruckende Bauwerk aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts erreichten.

Ab hier ging es bergab. Aber nur im geographischen Sinn; denn der alte teilweise in den Fels

gehauene Weg durch die Cardinello-Schlucht ist der landschaftliche Höhepunkt unserer Tour. Und das mag etwas heißen, denn wir fanden es bis jetzt überall schön – bis auf die anfangs beschriebene kurze Begegnung mit der Straße kurz nach Thusis.

Nach dem Bau der Fahrstraße über den Splügenpass (1818 – 1823) verlor der Cardinello seine wirtschaftliche Bedeutung. Die damaligen Schwierigkeiten konnten wir an diesem trockenen warmen Sonnentag nur erahnen und wir gingen und fühlten wohl auch eher wie Goethe: statt Gefahren erwarteten uns spektakuläre Aussichten und so war die Schlucht viel zu schnell durchgangen – schon nach einer Stunde öffnete sich das enge Tal nach Süden mit einem Blick auf den Ort Isola, wiederum an einem kleinen gleichnamigen Stausee gelegen. Allerdings dauerte es noch mindestens ebenso lange bis wir tatsächlich in Isola anlangten, denn zunächst hielt unser Wanderweg an einem Bergrücken seine Höhe während der kleine Bach links von uns Richtung Stausee abwärts plätscherte. Er bekam spektakulär Verstärkung von einem Wasserfall, dessen Ablauf wir querten und wir hatten den Eindruck als würden wir auf diesem Weg so schnell nicht in Isola ankommen. Die alten Häuser, die sich bald darauf an dem Bergrücken sammelten, gehörten zu dem Dorf Mottalette von dem aus wir noch eine halbe Stunde bis Isola gingen.

Die erste Etappe für die wir die volle angegebene Gehzeit brauchten! Und ab Isola waren es noch 20 Kilometer bis Chiavenna! Langsam bekam ich Angst, dass ich mich wahrscheinlich etwas verschätzt hatte.

Ziegenherde am Montespluga.

Sehnsucht nach dem Postbus
So ließen wir Isola rechts liegen und gingen einen Waldweg erst leicht aufwärts und dann langsam den Fluss entlang abwärts. Das zog sich und zog sich. Irgendwie waren wir aus der spektakulären Gebirgslandschaft draußen, die Straße war auf einmal viel zu nah und der Himmel verschleierte immer wieder milchig grau die Sonne. Zeit also für eine kleine Mittagsrast, die wir am Flussufer nahmen. Nach wurzeligen Waldwegen, die zwar grundsätzlich bergab, allerdings auch immer wieder mal bergauf gingen, folgten Geröllpfade und auf der Höhe von Campodolcino dann ein breiter Wanderweg den Fluss entlang. Hier konnten wir mal zügig Strecke machen, zumindest hatten wir zunächst den Eindruck. Doch ein Wegweiser lehrte uns eines Besseren: nach Chiavenna noch zwölf Kilometer! Eine herbe Enttäuschung und in diesem Moment eine Unendlichkeit mit den müden, schon schmerzenden Beinen und auf dem immer unwegsamer scheinenden Weg.

Bei mir war irgendwie die Luft raus, eigentlich war der Pass schon hinter uns, eigentlich hatten wir schon alles geschafft und jetzt zog sich dieses „kurze“ Stück, dem der Wanderführer gerade mal einen Halbsatz widmete, derart in die Länge. Ab und zu ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass auf der nicht weit entfernten Straße ein Postbus fahren könnte…

Doch noch gestand ich es mir nicht ein, geschweige denn meiner Frau, von der ich annahm, dass sie niemals im Entferntesten so etwas denken würde. In Gallivaggio, eigentlich groß genug, fanden wir unerwartet keine Bar, also auch keinen Kaffee, stattdessen ließ ich meine neue Sonnenbrille liegen, was ich erst eine knappe Stunde später merken sollte. Sie war teuer und sie gefiel mir außerordentlich, doch mir schien es unmöglich und unvorstellbar, wieder zurückzugehen. Es war auch klar, dass wir eine Pause und eine Stärkung brauchten.

Via Spluga.

Dazu mussten wir den Wanderweg verlassen und folgten einem Schild Richtung Straße und einem Kloster, das wir auch nach zehn Minuten erreichten. Doch statt Capuccino zu trinken fuhr ich gleich wieder per Autostopp zurück nach Gallivaggio, um meine Brille zu holen. Ich wusste ja genau, wo und wie ich sie liegengelassen hatte. Auf einer Steinmauer beim Kartenlesen, ich musste die Brille abnehmen, da deren Fernsichtschliff meine Altersweitsichtigkeit verschärfte und ich damit nicht lesen konnte. Eine Ausrede für meine Vergesslichkeit hatte ich also parat, doch sie half mir nichts. Die Brille war weg! So fuhr ich wieder zurück zu der Bar, wo Brigitte geduldig auf mich wartete und „gönnte“ mir endlich den Capuccino.

„Ich habe ganz schön müde Beine!“

„Ich auch!“

Das wars dann aber schon an Offenbarung über unsere Befindlichkeit. Sicherlich hätte uns ein Auto die restlichen seiben Straßenkilometer nach Chiavenna mitgenommen. Mir gestand ich es mittlerweile ein, doch ich fand es ketzerisch, Brigitte davon zu erzählen, für die das keine Option sein konnte, wie ich still annahm. Also wieder die zehn Minuten zurück zum Weg und weiter talabwärts Richtung Chiavenna. Durch Waldwege, durch Geröllfelder, vorbei an einem Wasserfall, darunter ein kleines Wasserbecken. Normalerweise undenkbar, dass wir daran vorbeigehen, ohne an so einem schönen Platz zu duschen und sich in dem Becken zu erfrischen. Undenkbar – und doch waren wir zu müde und wollten nur noch weiter. Und als wir irgendwann danach eine kleine Ortschaft, San Giacomo, erreichten, traute ich mich:

Die neue Passstraße am Splügen

„Ich kann nicht mehr!“

Von hier aus waren es noch drei Kilometer bis Chiavenna und wir fanden dann schnell ein Auto, das uns bis dorthin auch mitnahm. Die Sonne stach heiß vom mittlerweile wolkenfreien Himmel und mit lädierten Beinen erreichten wir das Hotel, das nach den beiden vorangegangenen eine kleine Enttäuschung war. Etwas später humpelten wir durch die wunderschöne Altstadt und fanden über dem idyllischen Fluss Mera auch ein schönes Restaurant mit gutem Essen und gutem Wein. Schluck für Schluck wandelte sich die Anstrengung des Tages in satte Zufriedenheit und die untergehende milde Abendsonne färbte den zu Ende gehenden Tag in ein warmes angenehmes Licht. So stießen wir auf eine wahrlich gelungene Tour an. Kaum zu glauben, dass wir nur drei Tage unterwegs waren, so viel haben wir gesehen.

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