FrankreichMarseilleSport

Asterix sticht ins deutsche Herz

Frankreichs erster k.o.-Sieg gegen Deutschland seit 1958 – es ist keine grandiose Leistung der Grande Footbal-Nation. An diesem Tag läuft einfach alles gegen la Mannschaft: eine Schweinsteiger-Aktion wie aus dem Tollhaus, zuvor verursacht Hector ohne Not die Ecke, die zu diesem Handelfmeter führt. Boateng, der letzte Fels in der Brandung, auch noch verletzt. Kimmich verhudelt den Ball im Strafraum, Mustafi lässt sich austanzen, Neuer schaufelt den Ball auf Griezmanns Fuß, der würgt die Kugel durch Neuers Beine – zwei geschenkte Tore und zehn ausgelassene Chancen, so verliert man als bessere Mannschaft ein Halbfinale.

Frankreichs Asterix richtet’s für die Èquipe Tricolore: Antoine Griezmann im Stile der Musketiere.
Schwierige Begegnung: Frankreichs Didier Deschamps (rechts) verkneift sich den Triumph, Joachim Löw kann’s noch gar nicht glauben.

Marseille (jrh/dpa) – „Riesenkompliment an die Mannschaft“, lässt Bundestrainer Jogi Löw keinen Zweifel daran, dass er Frankreichs Sieg nicht als verdient anerkennen mag. „Wir waren klar feldüberlegen, sind durch eine unglückliche Aktion in Rückstand geraten. Die Mannschaft ist sehr dominant aufgetreten, wir haben das Spiel klar dominiert, mit viel Kraft, mit Mut.“ Tore könne man halt nicht erzwingen, er könne keinem einen Vorwurf machen. Und der Elfer? „Wahrscheinlich kann man ihn geben, ich weiß nicht, ob man muss – der Bastian geht mit dem Kopf zum Ball, klar auch mit der Hand.“

Dann fällt auch noch Boateng aus. „Natürlich hat er gefehlt hinten drin, wir hatten Ausfälle mit Khedira, mit Hummels, mit Gomez.“ Hat er auch Fehler gesehen? „Wer viel riskiert, kann auch mal verlieren, aber wenn man nichts riskiert, hat man von vornherein schon verloren.“ Dazu komme das Aufblasen des Turniers: „24 Mannschaften, das finde ich zu viel. Am Ende hat es Portugal ins Finale geschafft, mit fünf Unentschieden, o.k.“

„Das Finale wird gewonnen“
„Freude, Stolz auf die Spieler, wir haben gegen ein großes Team gespielt, haben sie in Schwierigkeiten gebracht“, fasst Didier Deschamps seine Eindrücke nach der Revanche nach vielen verlorenen Duellen zusammen. „Das deutsche Team ist von einer Qualität, die beste Mannschaft der Welt, aber wir haben sie gepackt.“ Die Fans hätten die Équipe Tricolore fantastisch unterstützt, „sie haben gesungen, sie werden sich jetzt freuen aufs Finale.“

Antoine Griezmann, der doppelte Torschütze, macht nicht viel Aufhebens um seinen Anteil am Sieg: „Das war Teamarbeit, das waren aber auch die Physiotherapeuten und alle, die dazu gehören. Wir haben auch das Gefühl, für die Leute zu spielen. Das Finale wird gewonnen, klar.“

Das beste Spiel der Deutschen?
„So blöd das klingt“, sagt Toni Kroos, „wir haben unser bestes Spiel gemacht. Wir hatten wirklich gute Möglichkeiten, in der ersten Halbzeit haben wir Frankreich klar dominiert, dann gehen wir durch so eine blöde Situation in Rückstand.“

Bester Franzose: Frankreichs Torhüter Hugo Lloris rettet den Vorsprung.

„Blödere Momente gibt’s nicht, als ein Halbfinale bei der Europa-Meisterschaft, um zu verlieren“, ist Manuel Neuer unmittelbar nach dem Spiel fassungslos. „Ich will nicht sagen, dass wir die bessere Mannschaft waren, aber 2:0 ist kein gerechtes Ergebnis. Wir haben die Möglichkeit zurückzukommen. So wie Frankreich hier aufgetreten ist in der ersten Halbzeit, es war nicht viel zu sehen. Mit einem 1:0 spielt es sich natürlich leichter.“

Aus und vorbei
Ein Missgeschick von Bastian Schweinsteiger und der erste Turnier-Patzer von Manuel Neuer besiegelten im EM-Halbfinale das Aus für die entkräftete Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw. Stattdessen ebneten die beiden Tore von Mittelfeldstar Antoine Griezmann Gastgeber Frankreich den Weg ins EM-Finale gegen Portugal. Die deutsche Nationalmannschaft war nicht in der Lage, mit einem weiteren Kraftakt das 0:2 (0:1) und den Halbfinal-K.o. in Marseille abzuwenden.

Das Team von Joachim Löw konnte am Donnerstag in einem Spiel auf Augenhöhe die zahlreichen Ausfälle am Ende nicht mehr kompensieren. Auch Abwehrchef Jérôme Boateng musste noch vorzeitig verletzt vom Platz. So war es Superstar Griezmann, der mit zwei Toren (45.+2 und 72.) die 200. Niederlage einer deutschen Mannschaft besiegelte. Vorausgegangen war vor dem ersten Tor ein folgenschweres Handspiel von Schweinsteiger. Für Griezmann waren es bereits die Turnier-Treffer Nummer fünf und sechs, für die Franzosen die geglückte Revanche für mehrere WM-Pleiten gegen den alten Rivalen, wie zuletzt beim 0:1 vor zwei Jahren im Viertelfinale.

Gegen ein ganzes Land
«Wir spielen nicht nur gegen eine Mannschaft, sondern wir spielen gegen ein ganzes Land», hatte Löw vor dem 28. Klassiker gegen Frankreich gewarnt. Und entsprechend furios und euphorisiert gingen die Gastgeber ins Spiel. Die französische Offensive übte gleich großen Druck aus und wäre fast schon früh belohnt worden, als Griezmann zwei Spieler aussteigen ließ und Neuer zu einer Parade zwang. Eine derartige Phase hatte die deutsche Mannschaft in diesem Turnier noch nicht erlebt.

Patrice Evra (links), Olivier Giroud (Mitte) und Antoine Griezmann feiern den Einzug ins Finale der EM 2016..

Es dauerte zehn Minuten, ehe der Weltmeister den Schwung der Franzosen unterbinden und selbst sein taktisches System durchbringen konnte. Löw hatte dabei mit einer neuen Variante überrascht. Dass Schweinsteiger erstmals die deutsche Mannschaft bei der EM auf das Feld führen würde, hatte er vorher schon angekündigt. Neu war aber, dass Emre Can an seiner Seite im Mittelfeld zusammen mit Toni Kroos zu seinem ersten Einsatz kam. Damit kehrte Löw erstmals zum erfolgreichen 4-3-3-System von der WM 2014 zurück, das die deutsche Elf ab dem Viertelfinale bis zum Triumph von Maracana gespielt hatte.

Franzosen in der eigenen Hälfte
Und das taktische System ging auf. Schweinsteiger agierte als Abfangjäger vor der Abwehr und hinterließ lange einen starken Eindruck. Der Kapitän stand fast immer richtig und brachte Ruhe und Ordnung ins deutsche Spiel. Durch die Überlegenheit im Mittelfeld konnte die DFB-Auswahl die schnellen Gegenzüge der Franzosen gut unterbinden und erarbeitete sich selbst ein deutliches Übergewicht.

Die ersten Chancen ließen nicht lange auf sich warten. Erst war es der bei dieser EM so glücklose Thomas Müller, der den Ball nicht richtig traf (13.). Dann hatte Can die große Chance zur Führung, den Schuss des Liverpool-Profis fischte Hugo Lloris aber noch aus dem unteren Toreck. Die deutsche Mannschaft drängte die Franzosen in die eigene Hälfte zurück, auch weil die beiden Außenverteidiger Jonas Hector und Joshua Kimmich extrem hoch standen.

… und sucht die Konter
Was fehlten, waren aber die klaren Torchancen – sei es bei einem Schuss von Schweinsteiger (26.) oder als Julian Draxler und Müller nach einer Hereingabe den Ball nicht unter Kontrolle bringen konnten (32.). Szenen, die aber trotzdem zeigten, dass die Franzosen defensiv verwundbar waren.

Die Elf von Trainer Didier Deschamps versuchte indes ihr Glück mit Kontern. Vor allem wurde es durch Griezmann gefährlich. Der Bayern-Schreck – im Halbfinale der Champions League hatte er die Münchner mit seinem Tor im Rückspiel eliminiert – war nur schwer in den Griff zu bekommen. Eine der größten Möglichkeiten der Franzosen resultierte aus einem Fehler von Boateng, doch Benedikt Höwedes klärte in höchster Not mit einer Grätsche gegen Olivier Giroud.

Rizzoli leitet Entscheidung ein
Mit einem 0:0 zur Pause schienen sich die Teams abgefunden zu haben, als nach einer französischen Ecke ein Handspiel von Schweinsteiger im Zweikampf mit Patrice Evra das Spiel ein wenig auf den Kopf stellte. Der Italiener Nicola Rizzoli, der auch schon das WM-Finale 2014 geleitet hatte, entschied auf Elfmeter – keiner kapierte warum. Es war fast schon eine Parallele zum Italien-Spiel, als Boateng ein ähnliches Malheur unterlaufen war.

Patrice Evra (links), Olivier Giroud (Mitte) und Antoine Griezmann feiern den Einzug ins Finale der EM 2016..

Rizzoli die Schuld an der Niederlage zuzuweisen, wäre zu einfach. Dennoch fällt es schwer, bei seinen Entscheidungen die Balance gewahrt zu sehen: Gelbe Karten gegen Özil, Schweinsteiger, Can, die man mit mehr Fingerspitzengefühl nicht geben muss, wenn man die Nickligkeiten der Franzosen gleichzeitig durchlaufen lässt. Schwingt da das schlechte Gewissen des Italieners mit, weil er im WM-Finale Neuers Foul nicht geahndet hatte?

Fruchtloses Anrennen
Der Rückstand machte es für die deutsche Mannschaft nicht einfacher. Die Franzosen zogen sich noch weiter zurück. Die deutsche Mannschaft suchte vergeblich die Lücke. Erschwerend kam hinzu, dass auch noch Boateng verletzt vom Platz musste. Schon die Ausfälle des gesperrten Mats Hummels und der verletzten Leistungsträger Sami Khedira und Mario Gomez hatten das Unterfangen erschwert. Das Anrennen brachte nichts ein, stattdessen ging der Schuss nach hinten los. Paul Pogba tanzte Kimmich aus, dessen Flanke verlängerte Neuer vor die Füße von Griezmann, der zum 2:0 einschoss.

Trotzdem gab sich der Weltmeister nicht geschlagen. Kimmich setzte einen Schuss an den Pfosten (74.), Draxlers Freistoß strich nur knapp am Tor vorbei (76.). Sogar in der Nachspielzeit hatten noch Kimmich und Mario Götze große Chancen, doch es reichte nicht mehr.

Die Deutschen in der Einzelkritik
Neuer: Den ersten Schuss von Griezmann parierte er klasse (7.). Ohne Abwehrchance bei dessen Handelfmeter. Das 0:2 ging auf seine Kappe.

Kimmich: Der kleine Lahm-Nachfolger lief die Seite rauf und runter. Rassige Duelle mit Gegenspieler Payet. Pech beim Schuss an den Außenpfosten (74.). Der Youngster ist persönlich ein EM-Gewinner.

Boateng: Einen Fehler im Zweikampf mit Giroud musste Kollege Höwedes ausbügeln. Blockte später Girouds Schuss (47.). Erstes schwächeres Turnierspiel. Musste verletzt raus nach einem langen Pass (60.).

Höwedes: Vertrat den gesperrten Hummels exzellent. Monster-Grätsche gegen Giroud (42.). An dem Schalker Zweikämpfer lag der K.o. nicht.

Hector: Der Elfer-Held des Italienspiels war meist Linksaußen. Legte Can gut auf (14.). Mit Sissoko hatte er defensiv einige Probleme.

Schweinsteiger: Als Libero vor der Abwehr brachte der Kapitän seine Erfahrung ein. Klasse Schuss (26.). Sein unglückliches Handspiel im Strafraum aber war spielentscheidend. Entkräftet raus.

Can: Turnierdebüt im Halbfinale – eine harte Nummer: Löste sie nach Kräften. Schoss gefährlich (14.). Gelb-Rot gefährdet ausgewechselt.

Kroos: Engte die Kreise von Pogba ein. Als Taktgeber fiel er aus. Die Standards verpufften. Bremste Griezmann auf dem Weg zum 0:3 (86.).

Özil: Großes Laufpensum, großer Aktionsradius, kaum vom Ball zu trennen. Aber er hatte als Spielmacher auch keine Lösungen parat.

Müller: Übernahm die Gomez-Rolle als Rammbock in der Spitze. Viel Einsatz, null Ertrag. Ohne Torgefahr – und ohne EM-Treffer heim.

Draxler: Begann couragiert. Zog mit Tempo Richtung Tor. Es fehlte aber die finale Aktion wie beim scharfen Freistoß (76.). Gelb nach Frustfoul an Sissoko (50.).

Mustafi: Musste nach vier Spielen Pause für Boateng rein. Ließ sich von Pogba vor dem 0:2 verladen. Knallte vorne hoch drüber (80.).

Götze: Kam in der 67. Minute für Can. Ging in die Spitze, ein später Kopfball (90.+2). Enttäuschendes Turnier für den WM-Helden von Rio.

Sané: Kam als letzter Joker, war gleich mal gefährlich (79.). Löw gab dem Youngster ein paar Minuten Turniererfahrung für die Zukunft.

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"