Brüssel (dpa) – Europa ist mit der größten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert. Zur Entlastung sollen Asylbewerber vornehmlich aus Italien und Griechenland in andere EU-Staaten verteilt werden. Monatelang wurde um das «wie» gestritten. Nun haben die EU-Innenminister per Mehrheitsbeschluss die Verteilung von weiteren 120 000 Flüchtlingen – vor allem Menschen aus Syrien – innerhalb von zwei Jahren beschlossen.
Was haben die EU-Innenminister entschieden?
Dass 120 000 Flüchtlinge innerhalb Europas verteilt werden. Da bereits vor einer Woche die Umsiedlung von 40 000 Menschen – auf freiwilliger Basis – beschlossen wurde, geht es insgesamt um 160 000 Flüchtlinge. Dies betrifft ausschließlich Menschen, die gute Chancen auf Asyl haben, also vor allem Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, sowie Flüchtlinge aus Eritrea und dem Irak.
Wieviele Migranten nimmt Deutschland?
Nach Worten von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) wird Deutschland 31 000 der 120 000 Flüchtlinge aufnehmen. Das entspricht einem Anteil von 26 Prozent. «Ohne diesen Verteilschlüssel wären viele viele mehr zu uns gekommen», betont der Minister – und verweist darauf, dass Deutschland zurzeit fast die Hälfte aller Migranten aufnimmt.
Wer stimmte dagegen?
Die vier mittel- und osteuropäischen Staaten Ungarn, Rumänien, Tschechien und die Slowakei. Polen, das ebenfalls Einwände hatte, scherte aus der Visegrad-Gruppe aus und stimme dafür. Diese Länder sind selten das Ziel von Flüchtlingen und stehen häufig innenpolitisch unter dem Druck rechter Parteien. Ihre Befürchtung ist, dass solche Verteilschlüssel die Basis für eine permanente Verteilung auch in Zukunft sein könnten. Finnland enthielt sich.
Gibt es nun eine verpflichtende Quote für die Verteilung?
Nein, sagt Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn: «Die Verteilungsschlüssel, wie sie die EU-Kommission vorgeschlagen hatte – die berühmten Quoten – stehen nicht länger im Rechtstext.» So wurden die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Kriterien dafür wie Einwohnerzahl, Wohlstand, Arbeitslosigkeit und bisherige Leistungen bei der Aufnahme auch nicht mehr aufgeführt. Dennoch kann niemand sich vor der Verteilung drücken. «Auch Ungarn muss Migranten annehmen», betonte Asselborn. «Niemand hat das Recht, dies zu verweigern.»
Können sich EU-Staaten von dieser Pflicht freikaufen?
Nein. In einem Entwurf für das Treffen war zunächst vorgesehen, dass die Länder für jeden Flüchtling, dessen Aufnahme sie verweigern, einmalig 6500 Euro zahlen sollten. Wegen des Protestes vor allem von Deutschland und Frankreich wurde diese Idee fallen gelassen. «Es kann kein Geschäft geben: Geld gegen Flüchtlinge», sagte de Maizière. Ein Staat kann unter besonderen Umständen wie Naturkatastrophen die Umverteilung zeitlich um ein Jahr strecken – allerdings nur für 30 Prozent der zugeteilten Asylbewerber.
Welche Staaten werden entlastet?
Griechenland und Italien, wo besonders viele Bootsflüchtlinge über das Mittelmeer ankommen. Aus Griechenland sollen 50 400 Asylbewerber umgesiedelt werden, aus Italien 15 600. Auch Ungarn war ursprünglich im Plan der EU-Kommission enthalten. Da Ungarn die Umsiedlung aber generell ablehnt, können nun andere EU-Staaten von dem ungarischen Kontingent von 54 000 Asylbewerbern profitieren. «Das können alle Staaten in Anspruch nehmen (…), also auch Deutschland», sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). «Ob wir das tun, ist eine andere Frage.» Die EU-Kommission soll das prüfen.
Wie kam es, dass die Minister bei dem Treffen die Gegner mit Mehrheit überstimmten?
Das war selbst für EU-Diplomaten unerwartet. Bei Themen von solch großer Bedeutung sind in der EU einstimmige Beschlüsse aller EU-Staaten üblich – obwohl eine Mehrheit ausreicht. Luxemburgs Außenminister Asselborn verteidigte die Entscheidung mit den Worten, Europa befinde sich in einer Notfall-Situation und habe handeln müssen – auch ohne Konsens. «Wenn wir das nicht getan hätten, wäre Europa noch mehr gespalten gewesen und seine Glaubwürdigkeit wäre unterminiert worden», betonte Asselborn.
Wie geht es jetzt weiter?
Am Mittwoch werden die EU-Staats- und Regierungschefs auf Spitzenebene über die Ursachen und Hilfe in der Flüchtlingskrise beraten. «Wir haben den EU-Staats- und Regierungschefs das Leben sehr viel leichter gemacht», sagte EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos nach dem Ministertreffen. Konkrete Beschlüsse sollen die EU-Innenminister auch wieder bei ihrem nächsten regulären Treffen am 8. Oktober in Luxemburg treffen. Dort steht etwa die geplante EU-weite Liste sicherer Herkunftsländer, in die Flüchtlinge abgeschoben werden können, auf der Agenda. In der Debatte ist auch noch ein fester Mechanismus für die Verteilung, über den zu einem späteren Zeitpunkt beraten werden soll. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat zudem ein Gesetz für die legale Einwanderung nach Europa für 2016 angekündigt.