966, 100 Jahre bevor William the Conquerer die Briten beehrte, gründete hier der Herzog der Normandie – und leider nicht der bretonische – ein Benediktinerkloster. Bretonen besetzten das Gebiet, zu dem der Mont gehörte, im 9. Jahrhundert, 933 erobert es der normannische Herzog zurück. Freilich gedieh es auch deshalb so gut, weil es von den rivalisierenden Streithähnen gleichermaßen gesponsert wurde – ein Zankapfel bis heute, ob der Mont nun Wahrzeichen der Bretagne oder der Normandie sei. Auch wenn Historiker das Monument an der Grenze zwischen beiden Regionen klar der Normandie zuschlagen, entscheiden wir uns salomonisch dafür, es zum Tor der jeweils anderen Seite zu erklären.
Aufstieg und Fall der Benediktiner
Im 11. Jahrhundert begannen die Mönche mit dem Bau der romanischen Abteikirche. Im Laufe der Jahrhunderte entstand hier ein Ensemble sakraler und profaner Bauten, die ständig vergrößert, ergänzt oder ersetzt wurden. Im 13. Jahrhundert startete das Projekt „La Merveille“, ein großartiges gotisches Baukunstwerk in drei Etagen auf nacktem Fels. Während des Hundertjährigen Krieges zwischen Frankreich und England im 14. Jahrhundert wehrten die Bewohner des Mont eine 30-jährige Belagerung ab – dank der überragenden Befestigungsanlagen. Die nützten den Patres dann freilich während der Französischen Revolution auch nichts mehr: Die Abtei wurde in ein Gefängnis umgewidmet, Mönche, die sich nicht mit der neuen politischen Ordnung arrangieren mochten, durfte gleich hier bleiben – in Kerkerhaft.
Nach lang anhaltenden Protesten löste Napoleon III. das Gefängnis 1863 wieder auf. Bis zum Ende des Jahrhunderts wurde das verwahrloste Gesamtkunstwerk aufwändig restauriert. Mit dem Bau der Dammstraße 1878-79 setzte ein erster Ansturm von Touristen ein. Ab 1901 konnten die Besucher sogar mit einer eigens eingerichteten Zuglinie bis zum Fuß des Berges fahren. 1966 kamen Benediktiner-Mönche in die Abtei zurück. Seit 2001 setzten Brüder und Schwester der Ordensbruderschaft von Jerusalem das Klosterleben fort. Seit 1979 steht der Mont auf der UNESCO-Liste der Weltkulturerbe-Stätten. 1995 wurde das Projekt „Entsandung“ in Angriff genommen.
Saal der Waffen
Die Abtei Mont St. Michel, ein Höhepunkt des französischen Kulturerbes, Kloster und zugleich uneinnehmbare Burg während des Hundertjährigen Krieges, betreten die Besucher, nachdem sie die große Freitreppe nach der Grande Rue bezwungen haben, durch ein Portal des 13, Jahrhunderts, das in den Saal der Waffen führt. Hier mussten alle Besucher außer Mitglieder des Hochadels ihre Waffen abgeben. Die ersten Benediktiner hatten eine einfache Lebensweise noch weitgehend ohne Hierarchien gewählt: Armut, Keuschheit und absolute Unterordnung. Mönche und Äbte hatten lebten zunächst brüderlich zusammen.
Schon bald aber bevorzugten die Würdenträger eine repräsentative Wohnform, die ersten Erweiterungsbauten entstanden und steigerten sich bis zum 16. Jahrhundert zu prunkvollen Residenzen. Im Abtsgebäude etwa nahe der Kirche konnte der Ordensboss wichtige Besucher standesgemäß und einigermaßen luxuriös unterbringen. Schon lange vor der Französischen Revolution gab es am Mont einen Kerker, der Abt hatte im Mittelalter die Gerichtsbarkeit.
Die Abteikirche
Das waghalsige Projekt der Errichtung einer Abteikirche auf dem Felssporn 78 Meter über dem Meeresspiegel dauerte 60 Jahre – die Bauarbeiten richteten sich nach den Gezeiten. Von dieser grandiosen Architektur ist noch das romanische Langhaus mit der durchgängigen Holzdecke erhalten. Die Granitkapitelle mit für den normannisch-bretonischen Stil typischen Pflanzenornamenten, wurden allerdings durch Kopien ersetzt. Der von Strebebogen gestützte spätgotische Chor wurde nach dem Einsturz des romanischen Chors während der Besetzung im Hundertjährigen Krieg, zwischen 1446 und 1521 errichtet.
Die drei Ebenen der Klosterarchitektur spiegeln die hierarchischen Vorstellungen der Bauherren wider: Die Klosterzellen befinden sich mit der Kirche, dem Refektorium und dem Kreuzgang auf der obersten Ebene. Für hohen Besuch – oft mussten adelige Angehörige der Mönche untergebracht werden – war die mittlere Ebene mit der Salle des Chevaliers vorgesehen. Die einfachen Pilger teilten sich mit den Wachen Räume auf der untersten Ebene. Wo heute der Souvenirladen untergebracht ist, befand sich früher der Almosensaal, wo die ärmsten unter den Frommen auf milde Gaben hoffen durften.
Kreuzgang und Refektorium
Der Kreuzgang mit der umlaufenden raffinierten Doppelreihe versetzter Säulen lud zu innerer Sammlung ein. Ringsum befanden sich die für die Mönche wichtigsten Räume. Der zentrale Bogen sollte den Zugang zu einem neuen, noch größeren Refektorium darstellen, das nie gebaut wurde. Aber auch die vermeintliche Schlichtheit des bestehenden Refektoriums kann die Raffinesse ihrer Architektur nicht ganz verleugnen: Das riesiges Tonnengewölbe von 1217 mit der eleganten hölzernen Täfelung wird durch 57 hohe, schmale Fenster mit Dreiviertelsäulen und Tellerblattkapitellen beleuchtet. Steht man an den jeweiligen Enden des Raumes sind sie nicht zu sehen, der Raum wirkt wie von Geisterhand erhellt. Hier saß der Abt den absolut lautlosen Mahlzeiten vor.
Darunter befindet sich der mit Tapisserien und Wandgemälden reich dekorierte Gastsaal der Laien, wo Stifter, adelige Angehörige der Brüder und Könige unter dem schönen Kreuzrippengewölbe, das in kunstvoll ornamentierte Blattkapitäle mündet, rauschende Feste gefeiert haben sollen. Zu den dem einfachen Volk vorbehaltenen Räumen gelangt man durch einen Saal mit Zisternen, die von Säulen eingeschlossen sind. Das große Rad im Hof ist freilich keineswegs ein Mühlrad, das arme Pilger antreiben mussten, sondern ein ausgefeilter Mechanismus zum Hiefen schwerer Lasten.
Das berühmte Grün der Buchmaler
Zurück im Gebäude passiert man eine schöne burgundische Pieta aus dem 15. Jahrhundert. Eine große Treppe mit Tonnengewölbe öffnet sich rechts zur vorromanischen Kirche, weiter oben befindet sich die Wandelhalle der Mönche, das Promenoir. Den sogenannten Rittersaal unterteilen Säulen auf sechskantigen Basen in praktische Arbeitsplätze der Mönche, die mit zwei Kaminen beheizt werden konnten – der Kern eines der bedeutendsten Bildungszentren des 11. und 12. Jahrhunderts, wo Meisterwerke der mittelalterlichen Buchmalerei entstanden. Berühmt sind die Kalligraphien und Initialen mit Figuren und Tierdarstellungen vor allem für das berühmte „Grün von St. Michel“. Zweihundert Manuskripte können heute aber leider nicht an ihrem Ursprungsort, sondern im Skriptorial von Avranches, 5, rue de Geôle, www.scriptorial.fr, besichtigt werden.