Die SPD muss Antworten finden auf Globalisierung und Digitalisierung, sonst drohe ein weiterer Abstieg, fordert der frühere Parteichef. Die Sozialdemokraten müssten auch über Begriffe wie «Heimat» und «Leitkultur» diskutieren.
Berlin (dpa) – Gabriel schrieb: «Ist die Sehnsucht nach einer «Leitkultur» angesichts einer weitaus vielfältigeren Zusammensetzung unserer Gesellschaft wirklich nur ein konservatives Propagandainstrument, oder verbirgt sich dahinter auch in unserer Wählerschaft der Wunsch nach Orientierung in einer scheinbar immer unverbindlicheren Welt der Postmoderne?»
Die SPD hatte im September mit 20,5 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl eingefahren. Nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche zwischen Union, FDP und Grünen haben die Sozialdemokraten nun nach langem Ringen beschlossen, mit der CDU/CSU die Chancen für eine neue große Koalition zu sondieren.
Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer forderte am Samstag auf einem Parteitag in Nürnberg von Migranten erneut das «selbstverständliche Bekenntnis zu einer deutschen Leitkultur». Dazu gehörten das Erlernen der Sprache, die Finanzierung des Lebensunterhalts durch eigene Arbeit und «die Achtung unseres Rechts, nicht der Scharia», des islamischen Rechts.
Gabriel warnte in dem Gastbeitrag für den «Spiegel» vor einem weiteren Abstieg der Sozialdemokratie, wenn sie nicht überzeugende Antworten auf den fundamentalen Wandel in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung finde. Die Idee der Sozialdemokratie fuße seit mehr als 150 Jahren auf gemeinsamer Interessenvertretung, auf kollektivem Handeln und auf einer auf Solidarität ausgerichteten Gesellschaft. «Wenig ist davon übrig.» Der Nationalstaat könne seine Wohlfahrtsversprechen nicht mehr einlösen.
Erst wenn die SPD sich wirklich zu Veränderungen bekenne und daraus auch Konsequenzen ziehe, würden sich die Wahlergebnisse verbessern, schrieb Gabriel. «So gesehen ist es für die Frage des Überlebens der Sozialdemokratie in diesem Land relativ egal, ob wir in die Regierung gehen oder nicht. Für beides gibt es gute Argumente, und vor beidem muss die SPD keine Angst haben.»
Gabriel warf seiner Partei zudem Fehler im Wahlkampf vor: «Die Ehe für alle haben wir in Deutschland fast zum größten sozialdemokratischen Erfolg der letzten Legislaturperiode gemacht und nicht genau so emphatisch die auch von uns durchgesetzten Mindestlöhne, Rentenerhöhungen oder die Sicherung Tausender fair bezahlter Arbeitsplätze bei einer der großen Einzelhandelsketten.» Ein Blick auf die Entwicklung der Demokraten in den USA zeige, wie gefährlich diese Konzentration auf die «Themen der Postmoderne» sein könne: «Wer die Arbeiter des Rust Belt verliert, dem werden die Hipster in Kalifornien auch nicht mehr helfen.»
«Rust Belt» (Rostgürtel) heißt jener einst blühende Industriegürtel in den USA mit Städten wie Detroit, der heute in großen Teilen brachliegt. Dort hatte US-Präsident Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl große Erfolge gefeiert.
Die SPD müsse sich wieder stärker um jene Teile der Gesellschaft kümmern, die mit dem «Schlachtruf der Postmoderne «Anything goes»» nicht einverstanden seien, schrieb Gabriel. «Die sich unwohl, oft nicht mehr heimisch und manchmal auch gefährdet sehen.» SPD-Chef Martin Schulz habe recht: «Mehr internationale Zusammenarbeit, mehr europäische Zusammenarbeit: Denn nur so werden wir das zentrale Versprechen der Sozialdemokratie wieder einlösen, nämlich den Kapitalismus zu zähmen und soziale und auf Solidarität ausgerichtete Marktwirtschaften zu erzeugen.»