Seit wir in Sartène/Sartè die Voix des Emotions entdeckt und uns mit einer weiteren Auswahl korsischer Weltfolklore eingedeckt haben, sieht die korsische Landschaft noch dramatischer, noch operettenhafter, eben noch korsischer aus: „Il Partezano, Bella ciao, Bella ciao, Bella ciao ciao ciao … “ Hinter jedem Busch, Kamm und Felsen vermuten wir einen verkappten Freiheitskämpfer. Aber an diesem sonnigen Sonntag sehen wir selbst bei den Aussichtspunkten, die an den engen Straßen einen kurzen Halt erlauben, kaum Touristen oder Ausflügler. Die Hunde und wir haben die südkorsische Bergwelt ganz für uns.
Durch die Montagne de Cagna
Am höchsten Punkt der Straße strecken wir die durch zahllose Kurven eingepferchten Glieder und blicken rings um: Der Blick wird frei zum Col de Risoli, der von seinen 1300 Metern heruntergrüßt. Korsischer Pseudo-Edelweiß und Berg-Veilchen ranken sich an Felsen und wir wissen jetzt auch, warum ein Biker einige Stunden zuvor verschämt an den Blümchen herumgezupft hatte – er stand Schmiere für seine Rockerbraut, die ein paar Meter weiter hinten eine unschöne Duftmarke setzte.
Schluss mit Schnüffeln, weiter durchs Gebirge. Im buchstäblichen Nichts steht eine Baustelle in der Landschaft: Ende der Ausbaustrecke? Ab jetzt schleichen wir auf einem holprigen Lehmboden, einige prähistorische Baufahrzeuge lassen vermuten, dass hier in früheren Jahrhunderten an der Straßenerneuerung gearbeitet worden war. Vielleicht aber auch nur eine Falle für französische Touristen. So unvermittelt, wie er sich in den Weg stellte, so geheimnisvoll verabschiedete sich dieser Engpass auch wieder.
Schiefer Turm von Carbini
Wir erreichen Carbini am hochgelegenen Basin des Fiumicicoli-Flusses, eingebettet von grünen Hügeln, die vom 1315 Meter hohen A Punta di a Vacca Morta dominiert werden. Das Dorf wurde in dunklen Zeiten während eines Barbaren-Einfalls dem Erdboden gleichgemacht und stand im Mittelpunkt eines blutigen Kreuzzuges gegen die Ghjivannili, einer verbotenen religiösen Bewegung des 14. Jahrhundert.
Wer von oben in diese Dorfidylle einfährt kann einfach nicht anders, als spätestens unten an einem der beiden Bolzplätze die Bremse reinzuhauen. Die beiden einzigen Lebewesen: zwei Wanderer, die möglicherweise auf einen Bus warten. Schon bald aber liegen sie hinter der Kirchenmauer und vor dem romanischen Gotteshäuschen mit dem schiefen Campanile daneben.
Schlauer Meister Maternato
Auch wenn sie sich während der Siesta nicht sehen lassen, die Carbinieri haben sich nicht lumpen lassen und Infotafeln für die drei Wanderer aufgebaut, die in der Woche hier vorbeikommen. Vielleicht waren sie auch nur genervt von den dauernden Störungen, jedenfalls steht dort im schönsten Korsisch zu lesen: „Maestro Maternato tre cose in Corsica a lasciato U Ponte di u Rizzanese, u ponte die Forciolo u campanile di Carbini nominato.“ Maestro Maternato aus der Gegend um Pisa also habe drei Dinge in Korsika hinterlassen: die Rizzanese Brücke, die Brücke von Forciolo und den Glockenturm von Carbini.
Der toskanische Meister, ist hier weiter zu erfahren, befürchtete, er könnte nach getaner Arbeit gelyncht werden, damit er keine Ansprüche auf den Turm erheben könne – eine Sitte, die angeblich durchaus üblich gewesen sei. Also verlangsamte er seine Bautätigkeit wie jene Baumeister oben an der Straße, und verlangte, dass man ihm ein Werkzeug aus seiner toskanischen Heimatstadt Forciôlo bringen solle. Als die korsische Delegation bei seiner inzwischen wohl informierten Familie angekommen sei, habe diese die Männer als Geiseln festgehalten, bis er selbst in Sicherheit gewesen sei. Was für ein glücklicher Architekt, bedenkt man, dass sein Turm dem von Pisa an Neigung in Nichts nachsteht.
Dorf der wüsten Katzen
Und so ist denn auch die Église Saint Jean-Baptiste eine romanische Kirche pisanischer Prägung. Im 12. Jahrhundert wurde das Kirchlein der Diözese Aléria zugeschlagen. Prosper Merimée, wer auch sonst, entdeckte das verlassene Gotteshäuschen 1840 in verfallenem Zustand und erreichte, dass sie auf die Liste historischer Denkmäler gesetzt wurde. Der Turm wurde dann auch „schon“ ein halbes Jahrhundert später, 1903, restauriert.
Wie anders die Uhren hier oben in Carbini ticken, sieht man auch daran, dass weit und breit kein Hund zu sehen ist. Stattdessen streichen wüste Katzen durch den Ort, eine weiße jagt die grau-getigerte mit dem abgebissenen Ohr und die schwarze hält am Fenster Wache. Die schmucke Mairie aus Naturbruchstein gegenüber den für den kleinen Ort mehr als großzügigen Landhäusern, sicher ausgebaute Domizile reicher Pariser, gönnt sich eine architektonische Raffinesse: eine erst auf dem zweiten Blick zu entdeckende Außentreppe: Ah, so gelangen die sieben Einwohner des Weilers zu ihrem gewählten Gemeindevorstand.
Der alte Herr von Levie
Gemessen an Carbini macht unsere nächste Station, das Großdorf Levie, einen geradezu städtischen Eindruck – wir parken an der dominanten, ewig langgezogenen Pfarrkirche mit dem hohen Campanile. Leider ist sie verschlossen, so dass wir das elfenbeinerne Kruzifix nicht bewundern können. Wir laufen hoch zur belebten Hauptstraße des Ortes, biegen bei der Büste rechts ab und lassen uns in die Stühle vor der erstbesten Bar fallen. Der Café Creme, würzig wie Südkorsika, ist nicht der Rede wert, dafür das Schauspiel gegenüber. Immer wieder wechselt unser Barbesitzer die Straßenseite, palavert mit Kollegen anderer Bars und Geschäfte, während der einzige Gast innen die Stellung hält.
Dann Auftritt des Alten von Levie: Der alte Herr, aufgedonnert mit Hut und Sakko, fährt mit seinem kleinen Rénault vor und braucht eine geraume Zeit, bis er sich von einem Beatmungsgerät im Heck abgestöpselt hat. Schließlich wackelt er tapfer auf das Männer-Grüppchen zu, zu dem auch ein Jüngelchen gehört, den er wohl abholen möchte. Widerstrebend geht dieser mit – um dann einige Minuten vor dem Wagen zu streiken. Schließlich Abgang des Jungen, der Alte zurück im Wagen fährt einige Meter zur nächsten Bar. Hofft er hier auf Einsehen, dass er sich ein Gläschen Wein verdient hat?
Korsikas älteste Dame
Wir ziehen weiter, runter zum Musée Départemental de Levie (Quartier Pratu), das sich der Hauptort der Alta Rocca wegen seiner nahe gelegenen Steinzeitsiedlungen Cucuruzzu und Capula leistet. Wichtigste Sehenswürdigkeit des Museums: Das Skelett der ältesten Korsin, der 8600 Jahre alten „Dame von Bonifacio“.
Ob sie mit unserem alten Herrn von oben zu tun hatte, wissen wir nicht. Gefunden wurden ihre bemerkenswert gut erhaltenen Überreste in der Höhle Araguina-Sennola. (Öffnungszeiten: Juni bis September täglich 10 bis 18 Uhr, Oktober bis Mai Dienstag bis Samstag 10 bis 17 Uhr).