EuropaKultouren

Die Gattungen der Spezies „Reisende“

Natürlich: Es gibt viele Methoden, um die eigene Erlebnisfähigkeit zu stärken. Für den Kopfmenschen genügt vielleicht schon die penible Auseinandersetzung mit der Geschichte seines Zielortes. Der Homo historicus wird wohl bereits in Ehrfurcht erstarren, wen er Brunelleschis Kuppel endlich über sich schweben sieht – weil er weiß, welche technische Intelligenz, welche architektonische Kühnheit nötig war, um die erste Renaissance-Kuppel über dem Florentiner Dom zu vollenden. Für den Achtlosen dagegen ist es eine Kirchenkuppel mehr, für die es sich nicht lohnt, von Abertausenden Touristen weiter geschoben zu werden und für den Espresso 4,50 Euro hinzublättern. Eh, bene, das sind die kleinen Unterschiede in der Perspektive.

Prag in der Nacht.

Nehmen wir die Romantikerin – das soll jetzt nicht heißen, dass nicht auch Männer unter diese Kategorie fallen können. Wir wollten hier nur auf geschlechtliche Ausgeglichenheit achten. Sie (sic!) möchte vielleicht ein Schaudern den Rücken hinablaufen spüren, wenn sie sich die dramatischen Ereignisse vergegenwärtigt, die in diesen oder jenen Mauern anno 1279 oder gar 1849 die damaligen Zeitgenossen erschütterten. Für sie müssen es ohne Zweifel historische Romane sein, die sich akkurat in den engen Gassen, den wilden Schluchten, den zerklüfteten Felslandschaften ereigneten, die für ein paar Tage oder Wochen Schauplatz der eigenen Urlaubserlebnisse werden. Indem er das längst abgerissene Judenviertel im „Golem“ scharf an der Kante zum Antisemitismus verunheimlichte, hat etwa Gustav Meyrink im Opiumdelirium seinen Lesern millionenfache Schauer den Rücken hinuntergejagt, die sich mit aufgeschlagenem Buch an der Altneusynagoge vorbeidrückten, um dieser gruseligen Atmosphäre nachzuspüren (Gustav Meyrink, Der Golem, 1916 – Kapitel Prag):

„An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden Überrest eines früheren, langgestreckten Gebäudes, hat man sie angelehnt – vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne Rücksicht auf die übrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit zurückspringender Stirn; – ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn.

Unter dem trüben Himmel sahen sie aus, als lägen sie im Schlaf, und man spürte nichts von dem tückischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.

In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des Nachts und im frühesten Morgengrauen für sie gäbe, wo sie erregt eine lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fährt da ein schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklären lässt, Geräusche laufen über ihre Dächer und fallen in den Regenrinnen nieder, – und wir nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu forschen.

Im jüdischen Viertel in Prag.

Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spukhaften Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, dass sie die heimlichen, eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens entäußern und es wieder an sich ziehen können, – es tagsüber den Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder zurückzufordern.“

Wem es gegeben ist, das jüdische Viertel in Prag, auch wenn das Ghetto längst der Pariser Prachtstraße gewichen ist und nur noch die Synagogen und der alte Friedhof nächtens ihre magische Wirkung entfalten, mit solchen Augen zu betrachten, dem werden die Steine Geschichten erzählen. Er oder sie wird in den Antiquariaten entlang der Nerudová hoch zum Hradschin an den Wühltischen zerschlissene Leo Perutz‘ oder Franz Werfels heraus kruschen und die Legenden der Häuser, Brücken und Gassen gierig in sich aufsaugen. Geschichte wird lebendig, wenn auch nur als eine fiktive Option, als Nebenhandlung der großen europäischen Schlachten und Machtkämpfe. Jeder Ziegel, jedes Kapitell, jedes Fenster hat seine eigene Geschichte – Grotesken und Dramen längst verstorbener Handwerker, Bürger, Mägde und Künstler. In ihnen verborgen liegt das Wesen unserer Städte.

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„Ich habe mich mal lächerlich gemacht, weil ich in einem Kloster in Navarra die Geburt der Gotik entdeckt zu haben glaubte“, verrät Cees Nooteboom in seinem europäischen Reisebuch (Cees Nooteboom, „Giovanni Battista Tiepolo, eine Raumfahrt in Deutschland“, vgl. Fußnote 1 oben, Seite 22). „In den parallel verlaufenden romanischen Bögen des Kirchenportals steckte der erste Ansatz eines Knicks. Seit dieser Zeit bin ich etwas demütiger geworden, fast immer steht ein echter Kunsthistoriker hinter einem, und letzten Endes bin ich nur einer, der gerne schaut. Aber das ist es gerade – nicht behindert durch ein Zuviel an Wissen, sieht man die merkwürdigsten Dinge.“ Siehst du schon oder tust du noch? Werdet auch ihr EOL-Forschungsreisende und eröffnet der reisenden Welt neue Horizonte. Für gut recherchierte Beiträge vergibt die Redaktion wertvolle Gutscheine für Flüge, Hotels und ganze Tourenpakete. Wer mehr erfahren möchte, schickt ein E-Mail an info@europeonline-magazine.eu

„Bruegels Landschaften lagen im Pajottenland […], im Südwesten Brabants zwischen Zenne und Dender, unweit von Brüssel. Wenn du Augen hast, wirst du die Hügel und Felder aus den berühmten Bildern erkennen, auch heute noch. Und diese kleine Kirche in dem Bild mit den Blinden, die steht immer noch, in Sint-Anna-Pede (Cees Nooteboom, ebd. „Pieter Bruegel“, Seite 40).“ Auch Kunstmuseen und Galerien sind hervorragende Schulen für unsere Kombinationsgabe. Wie langweilig waren doch unsere Streifzüge durch den Louvre, als wir noch der Horde hinterherliefen und uns hinter 347 Leibern an die kleine, hässliche Mona Lisa heranzudrängen suchten. Dabei kann Bilderlesen so spannend sein. Kunstdetektive, die wir inzwischen sind, fahnden wir im unendlichen Raum zwischen dem Keilrahmen nach bekannten Landschaften, versteckten Botschaften und ironischen Andeutungen. Es muss nicht immer ein Goya sein, der eingebildet aus seiner Leinwand rausguckt. Michelangelo etwa hat wutentbrannt seine kirchlichen Kritiker zur Hölle geschickt – zu entdecken in der Sixtinischen Kapelle. Wer weiß, vielleicht gelingt es einem EOL-Kommissar eines Tages, einen Mord aufzuklären – Peter Greenaway ließ einen englischen Maler in den „Traktaten des Zeichners“ ein Verbrechen in einer Serie von Skizzen festhalten. Ein lupenreiner Indizienprozess, der die Macher von CSI & Co. neidvoll dreinblicken lässt.

Die EOL-BITTE:

Unsere Autoren benehmen sich wie Gäste, nicht wie Eroberer. Wir bringen keine Glasperlen, sondern den Respekt vor Sprache und Kultur des Gastlandes mit. Wir bestellen nicht am Wenzelsplatz auf gut boarisch unser „Weißbier“ – nicht nur, weil wir ungern das Doppelte bezahlen, sondern weil auch kein Tscheche auf die Idee käme, in Oberammergau vep?o-knedlo-zelo (Schweiners mit Knedl und Kraut) auf Südböhmisch zu ordern. Als zivilisierte Forschungsreisende sind wir in der Lage, fünf Brocken unseres jeweiligen Standortes in der Landessprache zu radebrechen – und werden dafür mit Lob, Offenheit, einheimischen Preisen, echten Insider-Tipps und dauerhaften Freundschaften belohnt. „Du kannst nie von hier weg“, warnte schon die Mutter des Protagonisten in dem schönen polnischen Roman „Alle Sprachen dieser Welt“ und führte weiter aus: „Wo sollst du hin? Und auch wenn du ins Ausland gehen würdest, wie sollst du da Leute kennen lernen, wenn du keine Sprache sprichst (Zbigniew Mentzel, „Alle Sprachen dieser Welt“, München 2006, Seite 12).“ Mach also der EOL-Familie keine Schande!

Es muss nicht immer Kunst und Kultur sein: Sich in endlosen Straßenschluchten einen Wolf laufen, sich im Museum die Füße in den Bauch stehen, in verruchten und verrauchten Kneipen nach dem ultimativen Kick suchen – das alles hat seinen Reiz zu seiner Zeit. Aber es gibt auch ein Reiseleben jenseits von Bildern und Bildung. Es kann ganz banal sein und doch ein buddhistisches Mantra übertreffen. Nehmen wir meine erste Pyrenäen-Überquerung mit einem schwarzen Oma-Rad ohne Gang. Also nicht zu verwechseln mit jenen Radtouristen, die heute mit Stahlhelm, 38-Gang-Leichtlaufrädern, vier Ortlieb-Taschen vorne und hinten, täglich 30 Kilometer mit Begleitfahrzeug an der Donau entlang radeln und in der Fahrradpension „Zum vollen Schlauch“ übernachten.

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