RusslandSankt PetersburgTouren

City on the Rocks

„Es wehte ihn daraus immer eine rätselhafte Kälte an, dieses prächtige Panorama war für ihn mit einem stummen, dumpfen Geist erfüllt“, lässt der vom Zaren verfolgte Fjodor Dostojewski Raskolnikow in „Schuld und Sühne“ über die schönste und eisigste Stadt der Welt sagen – die ehemalige Hauptstadt des Russischen Reiches, von der manche meinen, sie sei auf Skeletten errichtet. Nicht zum Gruseln, aber eine brillante filmische Einstimmung auf die Stadt Peters ist Russian Ark, der in der Erimetage 300 Jahre Geschichte Revue passieren lässt.

Ein sommerliches Naturschauspiel: weiße Nächte in Sankt-Petersburg.

Jedenfalls nicht auf  Stein gebaut, wie der Patron der Stadt, Simon Petrus – der Namensgeber ist und nicht etwa Bauherr Peter der Große – vermuten lässt, sondern aus dem Sumpf gestampft wurde das von Joseph Brodsky liebevoll Piter genannte St. Petersburg. „Die Stadt kleidet sich in Granit“, schrieb Alexander Puschkin und meinte damit die Befestigung der vielen Kanäle der nördlichsten Millionenstadt der Welt am Finnischen Meerbusen. Rund drei Meter oberhalb der Newa, die hier ins Meer mündet, musste das Prestigeprojekt des Zaren befestigt werden, damit das heutige UNESCO-Weltkulturerbe-Ensemble der Innenstadt nicht schon bei der Gründung im Grundwasser ersoff. Auf 606 Quadtratkilometern (mit den Eingemeindungen sind es 1431) breitet sich das russische Juwel, das mit Oslo, Stockholm und dem südlichen Alaska den Breitengrad teilt, aus – 42 Inseln ringen dem Wasser, das zehn Prozent der Stadtfläche ausmacht, Land ab.

Kometenhafter Aufstieg

Wie beim bekanntesten Sportverein, Zenit Sankt Petersburg, kann der Aufstieg der Stadt von einer schwedischen Festung namens Nyenschanz zur Hauptstadt des Russischen Reiches nach der Eroberung durch zaristische Truppen und der Gründung der Peter-und-Paul-Festung 1703 auf einer der vorgelagerten Inseln nur kometenhaft genannt werden. Bei beiden überließen die Väter des Erfolgs nichts dem Zufall: Der Gewinn des UEFA-Cups 2007/2008 wurde mit vielen Gazprom-Millionen erkauft und der Ausbau des russischen Tors zum Westen nach dem Willen des gnadenlosen Metropolenschmiedes Peter des Großen mit dem Leben von Zehntausenden von Zwangsarbeitern und Leibeigenen, die beim babylonischen Sumpfprojekt an Skorbut, der Ruhr, an Hunger und Entkräftung krepierten.

Man sollte das der Stadt, die alleine bei der deutsch-faschistischen Belagerung vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 etwa zwei Millionen Opfer, davon mindestens 750 000 Zivilisten, zu beklagen hatte, nicht übel nehmen. Schließlich nahmen sich die anderen europäischen Metropolen einige Jahrhunderte mehr Zeit, um ihren Gipfelsturm in Stein zu meißeln – und vielleicht hat man dort die Opfer einfach nur nicht so penibel gezählt. Was zählt ist das Ergebnis, und deren eiskalter Faszination kann man sich nur schwer entziehen. Denn, was bitte, können die 340.000 Studierenden für den blutigen Gründungsmythos ihrer Stadt? Man kann sich das rege Studentenleben in den Kneipen der Altstadt vorstellen, wenn eine Stadt der Größe Düsseldorfs allein im Wissenschaftsbetrieb werkelt – freilich verteilt auf 120 Hoch- und Fachhochschulen.

Russen-Disko

Newski Prospekt.

Den schönsten Eindruck von der Tauperiode in der Stadt, wenn Hunderttausende in den „weißen Nächten“ auf der Rossij-Straße, dem Newkij-Prospekt oder weiter draußen in Peterhof und Puschkin feiern, grillen und eine veritable „Russen-Disko“ – zur akustischen Illustration legen Sie jetzt bitte eine von Vladimir Kaminers Samplern auf – veranstalten: Denn um die Sommersonnenwende wird es auch nachts nie vollständig dunkel und dann werden die „Roten Segel“ (nach einer Erzählung von Alexander Grins,1923, Symbol für den Schritt von der Schule ins Erwachsenenleben) gehisst – seit fünf Jahren ist die Giga-Abi-Party der ca. 31 000 Schulabgänger neues Markenzeichen von St. Petersburg mit Open-Air-Konzert auf dem Schlossplatz (ab 23 Uhr) einer Laser- und Feuerwerksschau auf und über der Wasserfläche der Newa vor der Peter-Pauls-Festung mit zu diesem Anlass komponierter Multikulti-Musik (ab 1.40 Uhr, wenn es halbwegs dunkel ist). Der Anfang des Newski Prospektes, die Schlossbrücke, die Troizki-Brücke, der Börsenplatz und die Börsenbrücke sind für den Verkehr zwischen 20 und 5 Uhr morgens gesperrt. Die historische Fregatte „Standart“ zieht passend zum Party-Slogan mit roten Segeln ihre Kreise auf der Newa. Damit die Feiergemeinde wieder nach Hause kommt, öffnen die Metro-Stationen rund um die Party-Zone bereits um 4 Uhr morgens.

Auch wenn noch so ein laues Frühjahrslüftchen weht, widerstehen Sie der Versuchung, einfach mal mit dem Fahrrad die Prachtstraßen und Prospekte Petersburgs zu erkunden, um womöglich noch bessere Open-Air-Happenings aufzuspüren: Radfahrer sind in St. Petersburg nicht vorgesehen, der Verkehr ist brutal, die Autofahrer aus Prinzip rücksichtslos. Wem die Füße schmerzen, der sollte besser einen der unzähligen kleinen Minibusse anhalten, ganz salopp wie beim Autostopp per Handzeichen, und die paar Kopeken für mehr Sicherheit im Straßenverkehr investieren. Oder Sie entdecken Petrograd Underground – viele Metrostationen gleichen prächtigen unterirdischen Kathedralen.

Bernsteinzimmer, Mosaik “Fühlen und Riechen”.

Und um auch in dieses Klischeenäpfchen zu treten: Das „Venedig des Nordens“ lässt sich natürlich auch mit einer Bootsfahrt auf den Palast gesäumten Kanälen prima bestaunen. Immerhin, so abwegig wie bei vielen anderen hinkt der Vergleich nicht einmal: Denn nur Italiens Lagunenstadt übertrifft die Zahl der in Sankt Petersburg von der UNESCO als Denkmäler der Architekturgeschichte eingestuften rund 2400 Gebäude. Im Zuge des 300-jährigen Jubiläums der Stadt 2003 wurden Teile der Altstadt und viele Paläste saniert. Spektakulärster Coup der Stadtverwaltung: Das legendäre Bernsteinzimmer wurde originalgetreu nachgebaut. Nach inoffiziellen Schätzungen kosteten die gesamten Sanierungsarbeiten bis zu zwei Milliarden Euro.


Befehl zum Palastbau

Peter der Große hatte den Bau von Stadtpalästen mit harter Hand auch und vor allem gegen den Adel durchgesetzt, der es vorgezogen hätte, im gemütlichen Moskau zu bleiben. Es müssen vor allem der Seehafen, der Anschluss an das binnenrussische Flusssystem und die Nähe zu Westeuropa gewesen sein, die die Beharrlichkeit des Zaren erklären. Nach dem Tod Peter des Großen 1725 kehrte erst Zarin Anna wieder nach Sankt Petersburg zurück und verlegte das Stadtzentrum von der Petrograder auf die Admiralitätsseite der Newa. Ihre stadtplanerischen Entscheidungen, wie die Anlage der bis heute wichtigsten Hauptstraßen, des Newski Prospekts, der Gorochowaja Uliza und des Wosnessenski Prospekts, prägen das Stadtbild bis heute. In der Ära Zarin Elisabeths (1741–62) entstanden Prunkbauten wie der Winterpalast, das Smolny-Kloster oder der Katharinenpalast. Der ganz große, posthume Triumph Peters des Großen folgte Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts als sich seine Gründung zu einer kulturellen und wissenschaftlichen Weltmetropole mauserte: Unter Katharina II. „der Großen“ (1762–92) entstanden Institutionen wie die erste russische Ballettschule, die Akademie der Künste, Theater und Museen, Hochschulen und Bibliotheken. Als schließlich Zar Alexander II. 1861 die Leibeigenschaft abschaffte, strömten die Besitzlosen an die Newa und schufen den Grundstein für die heutige Größe.

Das Kernkraftwerk Leningrad II.

Um das historisierende Touri-Wolkenkuckucksheim mit einem Schuss realkapitalistischer Wirklichkeit zu erden, wollen wir nicht verschweigen, dass der Millionenmoloch alles andere als ein idyllisches Freiluft-Museum ist. Die Luftverschmutzung, bedingt durch den mörderischen Verkehr und die große Zahl an produzierender Industrie, ist erheblich. Viele Stadtviertel befinden sich laut Greenpeace in für die Gesundheit eigentlich nicht bewohnbaren Regionen. Knappe 100 Kilometer entfernt liefert ein großes Atomkraftwerk in Sosnowy Bor, auch als Kernkraftwerk Leningrad bezeichnet, etwa die Hälfte des Strombedarfs des Oblast Leningrad – denn so wie sich 54 Prozent der Petersburger 1991 für die Rückkehr zum historischen Namen aussprachen, verblieb ebenfalls nach einer Volksabstimmung das sie umgebende Leningrader Gebiet bestehen. Kein Grund jetzt allerdings mit den ohnehin nur schwer erschütterbaren Petersburgern in ein Heulen und Zähne klappern zu verfallen: Die Steuern der Gazprom-Öltochter Gazprom Neft, der Außenhandelsbank WTB, der Reederei Sovtorgflot, der Pipeline-Firma Transnefteprodukt oder der Fluggesellschaft Transaero, um nur einige zu nennen, füllen schon bald die von aufwendigen Sanierungskosten arg gebeutelten Stadtkassen, da sie ihren Standort in die ehemalige Hauptstadt verlagern.

Die Petersburger Clique
Auch wenn Moskau wohl kaum um die Hauptstadtwürde zittern muss, so deutet sich doch seit der pompös gestalteten 300 Jahrfeier im Jahre 2003 eine erneute Hinwendung zu Russlands intellektuell westlichsten Stadt an. Eine politische Volte, die Kenner kaum überraschen dürfte, sind doch nicht nur Russlands Nationalheilige Fjodor Dostojewski und Alexander Puschkin Söhne der Stadt, sondern für die aktuelle Entwicklung noch wichtiger auch Präsident Dimitri Medwedew und Ministerpräsident Wladimir Putin bekennende Petersburger. Derzeit steht allerdings nicht zu befürchten, dass nach dessen – wir wünschen an dieser Stelle ein langes und segensreiches Leben – Ableben, erneut eine Umbenennung bevorsteht, wie nach dem Tod Lenins. Damals übrigens mit gutem Grund, schließlich hatten in der Soldaten- und Regierungsstadt bis 1918 alle wichtigen Revolten und Revolutionen der russischen Geschichte stattgefunden und ein Schuss des Kreuzers Aurora im Petrograder Hafen war das Startsignal für die Oktoberrevolution 1917. Was freilich Lenin nicht daran gehindert hat, Moskau wieder zur Hauptstadt zu ernennen.

Der Kreuzer “Aurora” war während der sowjetischen Epoche sogar Thema von Kinderliedern.

Eine Revolution droht heute zwar nicht mehr – den letzten Putschversuch im Oktober 1993 gegen Boris Jelzin ließ der damalige Oberbürgermeister Anatoli Sobtschak durch Aufmärsche von Demokratieanhängern im Keim ersticken – dennoch ist Sankt Petersburg noch immer eine Stadt großer sozialer Gegensätze. Rund 15 Prozent der Bevölkerung leben in Gemeinschaftswohnungen, in denen sich die Familien eine Küche und ein WC teilen. Laut offizieller Statistik ist die noch zu Sowjetzeiten multikulturell geprägte Stadt inzwischen zu 89,1 Prozent von Russen bewohnt. Die wichtigsten Minderheiten sind mit 2,1 Prozent Juden, 1,9 Prozent Ukrainer, 1,9 Prozent Weißrussen sowie kleinere Gruppen von Tataren, Kaukasiern, Usbeken, Wepsen und Finnen.

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"