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Hyperaktive Nachteule

Alle fürchteten Berlin: Die Hauptstadt Preußens, die waffenstarrende, eisern klirrende Brutstätte der deutschen Sekundärtugenden. Das Berlin des kriegstreibenden Kaisers Wilhelm II. und der Regierungssitz des Weltbrandstifters Hitler, dieses Berlin wollte die deutsche Linke nicht wieder als Hauptstadt. Aber da gab es auch das geteilte Berlin der totalen Kriegsdienstverweigerer, der Hausbesetzer, der alternativen Szene – dieses Berlin war den Konservativen ein Graus. Beide vermochten die Rückkehr der Regierung an die Spree nicht zu verhindern, schließlich konnte nach dem „Beitritt“ der neuen Bundesländer ohne Abstimmung über eine neue Verfassung nicht auch noch in der provisorischen Westprovinz weiterregiert werden, als wäre nichts geschehen. Heute erleben wir ein Berlin, das sich neu erfunden hat.

Blick über Berliner Dächer, Kuppeln und Türme.

„Diese Stadt“, sagte einmal ein heute fast vergessener Kultursenator, „ist ein politisches Pompeji“. Also beginnen wir mit den Ausgrabungen. Als Giovanni di Lorenzo noch Chefredakteur des Berliner Tagesspiegel war, karrte er seine Bekannten nicht zum Reichstag oder dem Potsdamer Platz. Er entführte sie ins Babylon. Vor der Renovierung fand der letzte Großbau der Weimarer Stummfilm-Ära höchstens Beachtung bei genervten Anwohnern, denen die Defa-Ruine in der Rosa-Luxemburg-Straße 30 ein Dorn im Auge war. Dabei ist es nicht nur Hans Poelzigs Filmpalast von 1927 im Stil der Neuen Sachlichkeit mit abgerundeten Ecken, horizontalen Fassadenbändern und innen mit schwarzglänzender Eleganz, der Aufmerksamkeit verdient hätte – es ist vor allem eine von vielen für Berlin charakteristischen Geschichten, die aufhorchen lässt. Der Filmvorführer Rudolf Lunau hatte hier bis 1934 eine Widerstandszelle gegen die Nazis organisiert, eher er verpfiffen wurde. Anschließend verschwand er im Strafbataillon 999 auf Nimmerwiedersehen.

Lauschangriff im Club der Visionäre
Szenenwechsel. Durch Berlin latscht man nicht wie durch Prag vom Wenzelsplatz zur Karlsbrücke, und bekommt die Prätenziosen am silbernen Tablett serviert. Diese Stadt ist kein Berliner mit ein wenig Marmelade in der Mitte und viel Teig außen rum, sondern ein 891 Quadratkilometer großes Actionpainting mit einem Haufen bunter wie zufällig verteilter Farbkleckse, die hat man sich gefälligst mit allen zur Verfügung stehenden Verkehrsmitteln zu erobern hat – also rein ins Schiff (www.spreetours.de) und raus zum Osthafen, vom Regierungsviertel fünf Kilometer spreeaufwärts. Hinter Jonathan Borofskys „Molecule Man“ – drei durchlöcherte, fünf Meter hohe plane Metallmännchen tanzen im Dreieck auf dem Wasser – haben sich die subversiven Kreativkräfte der Stadt eingerichtet, quasi Berlin-Treptow, East-End: In den alten Fabrikhallen und Speichergebäuden werkeln und tüfteln Underground-Plattenlabels, Guerilla-Marketing-Agenturen und leider auch die MTV-Krakeler an den neuesten Produktideen für die Mediengesellschaft. Treffpunkt der Szene: der Club der Visionäre (www.clubdervisionaererecords.com), Am Flutgraben 1. Wenn man wissen will, was man in Berlin unbedingt erleben sollte, dann einfach hinter einer riesengroßen „Zeit“ verstecken, Lauscher auf und mitgeschrieben.

Im maurischen Stil: Neue Synagoge.

Abgehoben
Nach dieser Schiffspartie gehen Sie ruhig mal in die Luft. Nur aus der Vogelperspektive lässt sich die Struktur einer Stadt ermessen – und sei es auch chaotischer Wildwuchs. Den reinen Charterpreis von 165 Euro in der Stunde für drei Personen etwa zahlt man bei Simon Balcke (www.fly-to-the-sky.de) und guckt dann aus 600 Metern runter auf den Funkturm, den Potsdamer, den Alexander Platz, Tempelhof und auf den Teltower Kanal zurück zum Ausgangspunkt in Schönhagen. In der Morgensonne – gut, ein bisschen Glück gehört auch dazu – schimmert die Regierungsmeile mit Kanzleramt als Diagonale der Macht über der Spree. Einem Blick in einen gigantischen Propeller gleicht die Aufsicht auf die fächerförmige Glas- und Stoffkonstruktion über dem Forum des Sony-Centers am Potsdamer Platz. So nah waren Sie der Silbermetallic-Disco-Kugel des Fernsehturms am Alexanderplatz garantiert noch nie und selbst die realsozialistischen Wohnblöcke dahinter funkeln wie mit Alufolie überzogen. Norman Fosters transparente Reichtagskuppel ist von hier ganz ohne Anstehen in der obligatorischen Besucherschlange zu bewundern und golden glänzt die in den 1990ern aufwändig restaurierte Kuppel der Neuen Synagoge. Zeit, den Überflug zu beenden und wieder Bodenhaftung aufzunehmen. Damit der beflügelte Geist nicht zu hart landet, darf er sich in der musischen Luft der der Museumsinsel Am Lustgarten 1 in Berlin Mitte langsam an die künstliche Wirklichkeit gewöhnen.

Berlins Louvre
Der große Baumeister des Klassizismus, Karl Friedrich Schinkel, hatte 1823 mit dem Bau des Alten Museums am Lustgarten den Grundstein zu einem Arkadien an der Spree gelegt und die Fantasie des Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm IV. angeregt: Eine „Freistätte für Kunst und Wissenschaft“ wollte dieser schaffen, die bis zur nördlichen Spitze der Spree reichen sollte. Schinkel-Schüler August Stüler fertigte aus Skizzen des Königs einen Plan, der die Grundstruktur der Museumsvision umriss. Hundert Jahre später wurde die weltweit einzigartige Museenlandschaft leicht modifiziert Wirklichkeit. Mit einem Masterplan für das UNESCO-Weltkulturerbe wurden und werden Altes und Neues Museum, die Alte Nationalgalerie, das wilhelminische Bodemuseum und das neoklassische Pergamonmuseum auf den neuesten Stand der Museumstechnik und -pädagogik gebracht. Das Ein-Milliarden-Euro-Projekt mit unterirdischer Archäologischer Promenade und neuen Promenaden zwischen klassischen Blumenrabatten beherbergt Weltkunst aus sechs Jahrtausenden, die der Besucher durchschreiten kann – so werden die vielfachen Bezüge der Kulturen deutlich. Und wo könnte man das Zusammenleben der Kulturen besser studieren als in Berlin?

Buntes Berlin-Neukölln.

Zwischen Kiez und Ghetto
Etwa im ehemaligen roten Arbeiterviertel Neukölln, einer Kreuzung von Kiez und Ghetto, entlang der Sonnenallee mit ihren türkischen Reisebüros, arabischen Videotheken, postkonsumistischen Ramschläden, dem Telecafé und „Berlins billigstem Gasthaus“, dem Ambrosius, wo süßsaure Nieren gegen den omnipräsenten Kebab-Duft anstinken. Von den 300.000 Bewohnern haben 60.000 Wurzeln in der Türkei, Jugoslawien, Polen und Afrika. Hohe Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Alkoholismus sind Realität in diesem Laboratorium der Nationen, in dem viele Menschen in Unterkünften ohne Bad und Toilette hausen. Willkommene Schablone für manche Medien, spektakuläre Zerrbilder von Schießereien bei helllichtem Tag auf offener Straße zu zeichnen. Dabei gibt es hier inzwischen zahlreiche, unkonventionelle Selbsthilfeprojekte, über deren Erfolge seltener berichtet wird. Etwa über Gangway (www.gangway.de), die Eigeninitiative engagierter Jugendarbeiter, die 1990 mit zwei Teams startete und heute mit 45 Streetworkern verschiedener Nationen in 13 Berliner Bezirken enge Kontakte zu Gangs aufgebaut hat. „Das Vertrauen der Jugendlichen ist unser ganzes Kapital und nur dieses gibt uns die Interventionsberechtigung auch in sehr schweren Konflikten“, sagt Geschäftsführerin Elvira Berndt. Ihre Mitarbeiter seien keine Universalgenies, aber sie schafften es vielfach, dass sich Jugendliche, die von der Erwachsenenwelt enttäuscht seien, wieder öffneten. „Wir können eine ganze Menge tun, damit Jugendliche im Ämter- und Behördendschungel oder auch auf dem so genannten freien Markt das finden, was ihnen weiterhilft und wir können dafür sorgen, dass das, was die Gesellschaft den Jugendlichen an Unterstützung anbietet, diese Jugendlichen auch wirklich erreicht.“

Haben Sie Berlin schon bei Nacht gesehen?
Einige Facetten des soziokulturellen Komplexes, der sich Berlin nennt und in Wirklichkeit seit der Stadtgründung der beiden Spreegemeinden Berlin (1244) und Cölln (1237) Stadtteil um Stadtteil und Kiez um Kiez absorbierte, konnten wir im Zeitraffer betrachten. Jetzt wird es Zeit, den Glanz der Metropole aufzuspüren. Das geht am besten nachts, wenn die Stadt in allen Farben leuchtet. Wenn der violette Himmel das türkisfarben angestrahlte Brandenburgertor umhüllt, wenn die gläsernen Gipfelstürmer am Potsdamer Platz futuristische Lichtspiralen in die Luft zaubern, wenn der Berliner Dom hinter Nebelschwaden gelb gleißt, wenn die Nationalgalerie im milden Abendlicht eine mediterrane Orangefärbung annimmt, dann steigt einem Berlin nicht nur zu Kopf, sondern geht einem zu Herzen.

Zauberhaft leuchtend: Konzerthaus bei Nacht.

Nirgends in Deutschland gibt es mehr Institutionen, die ihre Pforten auch nachts öffnen: in der Clubnacht im März und September, in der langen Buchnacht im Mai, in der Langen Nacht der Wissenschaften im Juni, in der Nacht der Poesie im Juli, in der langen Nacht der Fledermäuse im September. Wer es einrichten kann, besucht die hyperaktive Nachteule in der Langen Nacht der Museen – jeweils an einem Samstag im Februar und August. Am besten an beiden, denn an die 100 Ausstellungsorte locken mit ganz besonderen Aktionen: Direktoren führen ihre Lieblingsstücke vor, Schauspieler rezitieren Sophokles vor dem Pergamonfries, von Museumsschiffen erschallen Seemannslieder und das Büffet wird auf antiken Opfersteinen kredenzt. Ganz zum Schluss ein Geh-Heim-Tipp, der nicht geheim ist: Die Berliner Club-Institution, die in fünfzehn Jahren fünf Mal den Standort wechselte, kann man, muss man aber nicht gesehen haben. Denn: Erstens krächzen es die Raben von den Linden, dass hier längst mehr Touris – also wir – verkehren, als coole Berliner. Zweitens kostet der zweifelhafte Spaß etwa einen Zehner Eintritt für den, der am wichtigsten Mann der Welt nach Barrack Obama vorbeikommt. Und drittens ist das Elektrogemische auch nicht mehr avantgardistischer als die Hitparade.

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