„Wir sind hier keine Insel der Seligen“, sagt der Student Pawel, der uns durch das „Stadtviertel des gegenseitigen Respekts“ führt. „Wie überall gibt es antisemitische Schmierereien, einige Ewiggestrige und leider auch immer wieder neue Nazis, die nie lernen werden, das ihr Leben nicht dadurch besser wird, dass sie andere drangsalieren.“ Der Unterschied sei vielleicht: „Für polnische Verhältnisse haben wir damit begonnen, gegen die Kultur des Wegsehens eine Kultur der gegenseitigen Unterstützung und Nachbarschaftshilfe zu leben.“
Steine des Anstoßes
Aber auch die eigene Organisation, die Kooperation der Konfessionen in diesem Viertel sei kein Selbstläufer: „Es gab eine Gründungsphase mit sehr engagierten Mitgliedern“, sagt Pawel, „wie Jerzy Kichler, dem langjährigen Vorstand der jüdischen Gemeinde in Breslau, der Pope Aleksander Konachowicz, Janusz Witt, ein langjähriges Mitglied der polnischsprachigen protestantischen Gemeinde. Die Gründungsväter sind halt immer die Motoren einer Bewegung.“ Nachdem Ausscheiden der Überzeugungstäter wie habe das Projekt stagniert. „Inzwischen haben die meisten verstanden, dass es keine Belastung, sondern ein gewaltiger Gewinn ist.“
Jener Jerzy Kichler vor der jüdischen Gemeinde war auch Initiator des Projektes, das zum Aushängeschild eines zumindest deklarierten multikulturellen Breslau wurde: dem „Quartier der vier Denominationen“. Stein des Anstoßes ihm wahrsten Sinn des Wortes war ein Akt des Vandalismus: 1995 sei Kichler am Gotteshaus der polnisch-orthodoxen Kirche vorbei gegangen, und habe einen jungen Mann beobachtet, der eine Ikone an der Seitenwand der Kirche mit Steinen bewarf. Dieser Vorfall sei ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen, weshalb er einem ihm bekannten katholischen Priester vorgeschlagen habe, gemeinsam für ein solidarisches Miteinander der Religionen und Konfessionen in Breslau einzutreten.
Daraufhin hätten der katholische Kardinal Gulbinowicz, der orthodoxe Erzbischof Jeremiasz, der lutherische Bischof Bogusz und viele andere Multiplikatoren die Einrichtung eines „Quartiers der vier Denominationen“ unterstützt. Man wolle im gemeinsamen Stadtviertel nicht mehr auf Distanz bleiben, sondern mehr über die Nachbarn lernen, Gedanken austauschen und einen Dialog beginnen.
Pfad der vier Religionen
Erster Schritt der Umsetzung: Breslaus südwestlicher Teil Innenstadt rund um die Synagoge wurde zu einem „Stadtviertel des gegenseitigen Respekts“ ernannt. Kernstück des Viertes ist ein gleichnamiger Pfad von der orthodoxen Kirche über die katholische Antonius-Kirche und die Synagoge bis zur lutherischen „Kirche der göttlichen Vorsehung“ – gleich daneben grenzt die ehemalige Breslauer Residenz der Preußenkönige an. Im Süden bilden der Wassergraben der Befestigung, nördlich der geschäftige König-Kasimir-Boulevard eine städtebauliche Grenze.
Seit 2005 veranstaltet die Stiftung „Quartier der vier Denominationen“ eine Ökumenische Gebetswoche, gegenseitige Gemeindebesuche, Podiumsdiskussionen der Geistlichen und gemeinsame Konzerte der Kirchenchöre. Besonders stolz sind die Macher des Projektes auf die Initiative „Kinder des einen Gottes“ – der religiöse Nachwuchs der umliegenden Gemeinden kann hier die anderen Konfessionen kennenlernen – etwa bei Kunst-Workshops oder Konzerten in verschiedenen Sprachen.
Europäische Kulturhauptstadt 2016
Für viele überhaupt die erste Gelegenheit, eine Synagoge mal von innen zu sehen – oder vice versa eine katholische, evangelische und orthodoxe Kirche. Sogar Berührungspunkte mit dem Zentrum für Islamische Kultur in Breslau wurden geschaffen. „Das Quartiers der Denominationen hat weit üner Breslau hinaus Aufsehen erregt und das Image Breslau als einer tolerantesten Städte Polens begründet“, sagt Student Pawel. „Das war sicher nicht das geringste Argument dafür, dass Breslau Europäische Kulturhauptstadt 2016 wurde.“
Die westpolnische Metropole setzte sich gegen Warschau, Danzig, Lodz und viele andere Städte des Landes durch. Eine Jury mit 13 Kulturexperten aus Polen und von verschiedenen EU-Institutionen hatte Breslau vorgeschlagen. „Ich freue mich sehr über die Begeisterung, die die Ernennung für 2016 in Polen ausgelöst hat, und möchte Breslau gratulieren“, sagte die damalige EU-Kommissarin Androulla Vassiliou. Sie hoffe, Breslau werde diese „einzigartige Chance“ nutzen, „denn kulturell, wirtschaftlich und gesellschaftlich kann die Ernennung für Stadt und Umland einen beträchtlichen Gewinn bedeuten“.
Von Iwona Orawska, Mitarbeiterin der polnischsprachigen Protestantischen Gemeinde Breslau
Ein Blick auf die konfessionelle Zusammensetzung der Breslauer Bevölkerung offenbart eine erstaunliche Vielfalt. Die heutige Präsenz dieser unterschiedlichen Religionsgruppen ist ein Resultat geschichtlicher Prozesse, im Zuge derer verschiedene Nationalitäten in dieser Stadt Fuß fassten. All diese Gruppen haben nicht nur ihre Kultur, sondern als Teil derer auch ihren Glauben in die Stadt hineingetragen. Und trotz der Pläne der kommunistischen Machthaber, ihre Vorstellung eines national homogenen Polens durch Assimilierung aller Minderheiten in die Tat umzusetzen, ist diese Vielfalt der religiösen und nationalen Identitäten bis zum heutigen Tage erhalten geblieben.
So hat Breslau als Folge der ehemals deutschen, protestantischen Mehrheitsbevölkerung immer noch eine kleine deutschsprachige evangelische Gemeinde. Gleichzeitig existiert aber auch eine polnischsprachige protestantische Gemeinde, deren Mitglieder mehrheitlich nicht aus Breslau stammen. Zudem kamen als Folge der sogenannten Aktion Weichsel (Akcja Wis?a) Ukrainer aus Ostpolen nach Breslau, die seit der Wende nach 45 Jahren der Illegalität ihren griechisch-katholischen Glauben ukrainisch-byzantinischen Brauchtums ungehindert pflegen können. Des Weiteren entstanden nach dem Krieg als Folge der Umsiedlungen ostpolnischer Minderheitsbevölkerung zwei orthodoxe Gemeinden in der ehemals deutschen Stadt. Gegenwärtig werden diese von orthodoxen Ukrainern, einigen wenigen Russen und Polen besucht.
Sogar die Auswanderung einer großen Anzahl von Polen nach Amerika im 19. Jahrhundert wirkt sich auf das heutige religiöse Leben Breslaus aus: Sie gründeten in der neuen Heimat eine eigene Kirche, die sogenannte polnisch-katholische Kirche, die in der Zwischenkriegszeit wiederum nach Polen ausstrahlte. Erstaunlich auch, dass Breslau trotz des Holocausts und antisemitischer Kampagnen in der kommunistischen Volksrepublik Polen immer noch eine kleine jüdische Gemeinde besitzt.