An diesem Donnerstag stimmen die Briten darüber ab, ob ihr Land die EU verlassen oder in der Gemeinschaft bleiben soll. Wichtige Fakten zum Wahltag – und der Nacht danach:
Die Wahllokale sind am Donnerstag von 07.00 Uhr morgens bis 22.00 Uhr britischer Zeit geöffnet – also von 08.00 bis 23.00 Uhr MESZ. In Gibraltar schließen die Wahllokale wegen der Zeitverschiebung eine Stunde früher. Danach beginnt die Auszählung. Nach bisherigem Stand wird es unmittelbar nach Schließung der Wahllokale weder Prognosen noch Hochrechnungen geben. Experten begründen dies mit dem Fehlen entsprechender Vergleichsdaten.
Im Laufe der Nacht werden aber die Ergebnisse aus den einzelnen Wahlbezirken nach und nach bekannt gegeben. Die meisten Resultate dürften zwischen 03.00 und 05.00 Uhr MESZ vorliegen. Sie werden von der Wahlkommission an ausgewählte Medien weitergegeben und von diesen veröffentlicht. Dabei handelt es sich um die britischen Sender BBC, Sky News, ITV und die britische Nachrichtenagentur Press Association (PA). Ein Endergebnis wird am Freitag um die Frühstückszeit erwartet – wenn es nicht wegen Pannen zu Verzögerungen kommt.
Abgestimmt wird in 382 Wahlbezirken. Rund 45 Millionen registrierte Wähler sind aufgefordert, ihre Stimme abzugeben.
Die Frage auf dem Stimmzettel lautet: «Soll das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?» Angekreuzt werden kann eine der beiden folgenden Antworten: «Ein Mitglied der EU bleiben» oder «Die Europäische Union verlassen».
London/Brüssel – (dpa) Wie geht es weiter, wenn die Briten für den Brexit stimmen? Zumindest in groben Zügen ist im EU-Vertrag seit 2009 festgelegt, wie ein Staat aus der Union austreten kann.
Der entscheidende Artikel 50 sieht vor, dass Großbritannien in einem ersten Schritt die Vertretung der EU-Staaten über seine Austrittsabsicht informieren müsste. Die Staats- und Regierungschefs würden dann unter Ausschluss des Vereinigten Königreichs Leitlinien für die Austrittsverhandlungen festlegen.
Die EU-Kommission oder ein anderes, von den Staaten ernanntes Gremium könnte im Anschluss mit Großbritannien ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aushandeln. Dabei würde auch der Rahmen für die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur Union festgelegt werden.
An diesem Punkt müssten sich die Briten allerdings auf äußert schwierige Verhandlungen einstellen. Inkrafttreten könnte das neue Abkommen nämlich nur nach Zustimmung des Europäischen Parlaments und der Mitgliedstaaten. In letzterer Runde ist sogar eine qualifizierte Mehrheit notwendig.
Wenn kein Abkommen zustande kommt und keine Fristverlängerung gewährt wird, würde Großbritannien zwei Jahre nach dem Einreichen des Austrittsgesuchs ungeregelt aus der EU ausscheiden. Ein solches Szenario wird allerdings wegen der für beide Seiten großen Risiken für äußert unwahrscheinlich gehalten. So könnte zum Beispiel Handel und Wirtschaft stark in Mitleidenschaft gezogen werden.
Mögliche EU-Wackelkandidaten
Ein Nein der Briten zur EU könnte Bestrebungen in anderen Mitgliedstaaten stärken, denselben Weg einzuschlagen. Diese Befürchtung wird in Brüssel offen ausgeprochen: So warnte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker unlängst, ein Briten-Austritt könnte woanders «Lust auf mehr» machen. Ein Überblick über mögliche Volksabstimmungen in den Mitgliedsländern, auch zu anderen EU-Themen.
UNGARN: Weit fortgeschritten sind die Pläne der rechts-konservativen Regierung von Premier Viktor Orban für ein Referendum zu den EU-Flüchtlingsquoten. Dabei geht es um künftige, nicht um die schon beschlossenen Quoten. Gegen letztere klagt Budapest vor dem Europäischen Gerichtshof. Die Abstimmung ist im Herbst geplant, der Termin noch offen. Das Verfassungsgericht wird noch prüfen, ob es verfassungskonform ist und nicht etwa gegen internationale Verträge verstößt. Die demokratische Opposition kündigte bereits einen Boykott des Referendums an. Damit es gültig ist, müssen daran mindestens 50 Prozent der Wahlberechtigten teilnehmen.
TSCHECHIEN: Das Brexit-Referendum hat die Debatte über einen möglichen «Czexit» entfacht. Ein Ja der Briten zum Austritt würde eine «Welle des Nationalismus und Separatismus» in ganz Europa auslösen, warnt der sozialdemokratische Regierungschef Bohuslav Sobotka. Beobachter befürchten, dass das Thema dann den tschechischen Parlamentswahlkampf 2017 dominieren könnte. Als schärfster EU-Kritiker gilt Ex-Präsident Vaclav Klaus, der zuletzt beim AfD-Parteitag in Stuttgart auftrat. Anfang Mai scheiterte indes ein Antrag der rechtspopulistischen Morgenröte (Usvit), über ein Austrittsreferendum im Abgeordnetenhaus in Prag zu beraten.
POLEN: Von Regierungsseite sind derzeit keine Referendums-Initiativen geplant. Die nationalistische Bewegung, als Teil der Partei Kukiz15 auch im Parlament vertreten, sammelt allerdings Unterschriften für eine Volksabstimmung, bei der die Bürger über die Aufnahme von Flüchtlingen entscheiden sollen. Ob das Referendum durchgeführt wird, ist offen. Sollten die Wähler in der Flüchtlingsfrage das letzte Wort haben, dürfte Polen als Zufluchtsland wegfallen – in Umfragen waren zuletzt mehr als 70 Prozent gegen die Ansiedlung von Flüchtlingen.
NIEDERLANDE: Eine Mehrheit der Niederländer wäre nach Umfragen für eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft. Doch das ist nach heutiger Gesetzeslage unmöglich. Es gibt nur das Instrument eines «ratgebenden» Referendums. Das gab es erst im April: Auf Initiative europakritischer Bürgerinitiativen wurde das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine abgelehnt. Dieselben Initiativen kündigten eine Volksabstimmung über den Austritt aus der EU, einen «Nexit», an. Das jedoch schließt das Referendum-Gesetz aus. Volksabstimmungen dürfen nur über noch nicht-ratifizierte Verträge gehalten werden.
DÄNEMARK: Die dänischen Rechtspopulisten haben im Falle eines Brexit ein Referendum über einen EU-Austritt im eigenen Land gefordert. «Dann will ich eine Volksabstimmung haben, um zu klären, ob Dänemark sich so eine Lösung wünscht», sagte der Chef der Dansk Folkeparti, Kristian Thulesen Dahl, jüngst der Zeitung «Jyllands-Posten». «Es geht darum, mehr Selbstbestimmung zurückzugewinnen.» Die liberale Regierungspartei Venstre wehrt sich jedoch genau wie die übrigen Oppositionsparteien gegen diesen Vorschlag. Was die Zusammenarbeit in der EU angeht, sei man nicht skeptisch, sagte Venstre-Sprecher Jakob Ellemann-Jensen. «Es gibt Dinge, in die sich die EU einmischen soll, und Dinge, in die sich die EU nicht einmischen soll.»
FRANKREICH: Die Chefin der rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, erneuert regelmäßig ihre Forderung nach einem Referendum über einen Austritt Frankreichs aus der EU. Eine Volksabstimmung ist allerdings nur mit Zustimmung des Staatspräsidenten möglich. Die EU-Abgeordnete und erbitterte Europa-Gegnerin Le Pen machte ihre Partei bei der Europawahl zur stärksten Kraft in Frankreich. Bruno Le Maire, ein potenzieller Kandidat der bürgerlichen Rechten für die Präsidentschaftswahl 2017, fordert auch ein Referendum – allerdings um die EU-Verträge zu ändern und die Union damit zu stärken.
BALTIKUM: In Estland, Lettland und Litauen findet sich mehr Begeisterung für die EU als in vielen älteren westlichen Mitgliedstaaten. Verschiedene Krisen geben EU-Skeptikern und Rechtspopulisten aber Auftrieb. Einzelne Oppositionsparteien und Einwanderungsgegner fordern etwa Referenden über die Flüchtlingspolitik und die Aufnahme von Migranten. Die Regierungen in Tallinn, Riga und Vilnius beugen sich dem aber bislang nicht.
Die Argumente der beiden Lager
Kaum ein Wahlforscher wagt, das Ergebnis des Referendums über Großbritanniens EU-Mitgliedschaft vorherzusagen. Die letzten Umfragen vor der Abstimmung ergaben kein klares Bild, entscheiden könnten Bauchgefühl oder auch die Wahlbeteiligung. Die Kampagnen für und gegen den Brexit wollen aber auch mit Argumenten überzeugen. Die wichtigsten:
PRO BREXIT:
- Kontrolle über die Grenzen: Immigration ist mit Abstand das wichtigste Argument der EU-Gegner. Zwar gehören die Briten nicht zum halbwegs grenzenlosen Schengen-Raum, aber EU-Bürgern dürfen sie die Einreise und das Arbeiten nicht verweigern. Vor allem Einwanderer aus Osteuropa, die angeblich wegen der Sozialleistungen kommen, sind bei manchen Briten nicht gut angesehen.
- Kosten: Die Kampagne «Vote Leave» hat errechnet, dass die EU das Land 350 Millionen Pfund pro Woche koste – mehr als 450 Millionen Euro. Und bis 2020 soll es noch viel teurer werden.
- Eigene Gesetze: Was aus Brüssel kommt, sehen viele Briten traditionell kritisch. Erst recht, wenn es um Regulierung, Standards und Gesetze geht. EU-Gegner wollen, dass London wieder alles selbst entscheidet – von Baurichtlinien bis zum Arbeitsmarkt.
- Handel: Zwar erarbeitet die EU Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada – aber eigene Abkommen etwa mit China und Indien seien für das jeweilige EU-Mitglied nicht machbar, kritisieren Brexit-Fürsprecher.
KONTRA BREXIT:
- Handel: Für EU-Freunde ist die Wirtschaft klar das größte Plus der Union. Drei Millionen Arbeitsplätze hingen am Handel mit der EU, heißt es bei der Kampagne «Britain stronger in Europe». Dazu kämen täglich Investitionen in Millionenhöhe. Für jedes Pfund, das London nach Brüssel gebe, kämen so beinahe 10 Pfund zurück. Ein Brexit könne etwa Reisen und Lebensmittel deutlich teurer machen.
- Arbeitsrechte: Mutterschutz, Urlaubstage und mehr – die EU garantiert Arbeitnehmern manches, was sonst vielleicht zur Debatte stünde. Ein wichtiges Argument vor allem für die sozialdemokratische Labour-Partei.
- Außenpolitik: Eine Gemeinschaft aus 28 Staaten hat mehr Gewicht als ein einzelnes Land. Unter anderem wollen die USA, dass die Briten in der EU bleiben – und die Beziehung zu Washington ist für London traditionell besonders wichtig.
- Sicherheit: Auch der Kampf gegen den Terror sei in der EU effektiver, sagen viele – sowohl direkt in Syrien als auch zu Hause. Die Geheimdienste MI5 und MI6 sind dafür, in der Staatengemeinschaft zu bleiben. So können sich die Sicherheitsdienste und Polizeibehörden einfacher austauschen.