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Militärputsch in der Türkei

Das türkische Militär hat nach eigenen Angaben die Macht in der Türkei übernommen. Erdogan ist nach Angaben aus Kreisen seines Amtes dennoch nicht abgesetzt - und an einem sicheren Ort. Er rief die Menschen zu Versammlungen auf - viele folgten dem Appell.

Istanbul (dpa) – Nach einem Putschversuch des Militärs in der Türkei gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist die Lage im Land völlig unübersichtlich. Die türkischen Streitkräfte übernahmen nach eigenen Angaben vollständig die Macht. Das Präsidialamt bestritt dies am Freitagabend allerdings. In einem live übertragenen Telefonanruf beim Sender CNN Türk rief Erdogan das Volk zu öffentlichen Versammlungen gegen die Putschisten auf.

Sanitätsfahrzeuge im Einsatz nahe des türkischen Generalstabsgebäudes am Tag des Militärputsches am 15. Juli 2016.

Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, bei einem Luftangriff der Putschisten auf das Hauptquartier der Spezialkräfte der Polizei in Ankara seien 17 Polizisten getötet worden, vier Soldaten – darunter ein Offizier – seien beim Versuch, das Gebäude des staatlichen Senders TRT in Istanbul einzunehmen, von Bürgern und Polizisten «neutralisiert» worden.

Erdogans Stellungnahme
«Ich rufe unser Volk auf, sich auf den Plätzen und am Flughafen zu versammeln. Sollen sie (die Putschisten) mit ihren Panzern und ihren Kanonen machen, was sie wollen», sagte Erdogan. Im Istanbuler Stadtteil Tophane zogen Dutzende Gegner des Putsches auf die Straße. Ein dpa-Reporter berichtete am Samstagmorgen, die Menge habe unter anderem «Gott ist groß» und «Nein zum Putsch» gerufen. Der US-Fernsehsender CNN International und die britische BBC zeigten Live-Bilder aus der Stadt: Menschen strömten in Massen auf die Straße und schwenken türkische Fahnen.

Augenzeugen berichteten aber auch von öffentlichen Solidaritätskundgebungen für die Putschisten in Istanbul. Am zentralen Taksim-Platz hätten sich Menschen in türkische Flaggen gehüllt und gerufen: «Die größten Soldaten sind unsere Soldaten.»

Nach Angaben des Senders CNN Türk kam es in der türkischen Hauptstadt Ankara zu Gefechten zwischen Polizei und Militär. Die Armee habe die Polizeidirektion beschossen, hieß es. Augenzeugen berichteten von Panzern in den Straßen der Hauptstadt.

Aus Präsidialamtskreisen hieß es, Erdogan sei an einem sicheren Ort. Nähere Angaben zum Aufenthaltsort gab es zunächst nicht. Er sei nicht abgesetzt, hieß es weiter. «Der demokratisch gewählte Präsident der Türkei und die Regierung sind an der Macht.» In einem Interview des Senders CNN Türk machte er Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich.

Ausgangssperre im ganzen Land

Der türkische Kanal von CNN zeigt Polizisten, die eine der zwei über den Bosporus führenden Brücken in Istanbul sperren.

Das Militär verhängte derweil eine Ausgangssperre im ganzen Land. Die Ausgangssperre diene der Sicherheit der Bürger, hieß es in einer Erklärung, die Putschisten im Staatssender TRT 1 verlesen ließen.

Mit dem Putsch sollten unter anderem die verfassungsmäßige Ordnung, die Demokratie und die Menschenrechte wiederhergestellt werden, teilte das Militär nach Angaben der privaten Nachrichtenagentur DHA mit.

Einem Medienbericht zufolge hatte das Militär den Flugverkehr am Atatürk-Flughafen in Istanbul zwischenzeitlich gestoppt. Soldaten hätten den Tower am größten Flughafen des Landes am Freitagabend unter ihre Kontrolle gebracht, meldete DHA. Nach Erdogans Aufruf drangen Demonstranten auf das Flughafengelände ein, wie die private Nachrichtenagentur DHA meldete. Das Militär sei daraufhin wieder abgezogen.

Flüge gestrichen

Unterstützer von Erdogan am 16. Juli 2016 auf dem Taksim Platz in Istanbul, Türkei.

Mehrere internationale Fluggesellschaften riefen ihre Maschinen zurück oder strichen Flüge. Die Lufthansa sagte vorerst alle Flüge aus dem Land und in das Land hinein ab. «Wir werden bis morgen Mittag 12 Uhr alle Verbindungen von und in die Türkei streichen», sagte ein Konzernsprecher in der Nacht zu Samstag. Auch die Billigflug-Tochter Eurowings setzte alle Flüge zwischen Deutschland und der Türkei bis auf Weiteres aus, wie die Gesellschaft mitteilte. Reiseveranstalter TUI rief einen Krisenstab ein. Kunden, die in den nächsten Stunden in die Türkei fliegen wollten, könnten kostenlos ihre Reise stornieren.

DHA meldete weiter, in der Hauptstadt Ankara habe die Polizei das gesamte Personal zum Dienst gerufen. Im Umfeld des Armee-Hauptquartiers seien erhöhte Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden. Zahlreiche Krankenwagen stünden dort bereit. Kampfjets würden im Tiefflug über die Hauptstadt fliegen.

Schwerbewaffnete auf den Straßen
Augenzeugen in Istanbul berichteten von schwer bewaffneten Sicherheitskräften in den Straßen. Über Istanbul kreisten Hubschrauber. Kampfjets flogen im Tiefflug über der Stadt. DHA meldete, eine der Bosporus-Brücken sei teilweise gesperrt worden.

Russland und die USA riefen zum Frieden auf. «Blutige Zusammenstöße müssen vermieden und sämtliche Probleme ausschließlich verfassungskonform gelöst werden», mahnte der russische Außenminister Sergej Lawrow bei einem Treffen mit seinem US-Kollegen John Kerry in Moskau. Kerry betonte der Agentur Interfax zufolge, er hoffe auf Stabilität, Frieden und Kontinuität in der Türkei. Auch Grünen-Chef Cem Özdemir sprach sich für einen gewaltlosen Wandel in der Türkei aus. «Wer den autoritären Herrscher Erdogan loswerden will, der muss dies an der Wahlurne tun», sagte Özdemir in der Nacht zu Samstag der Deutschen Presse-Agentur. «Ein Militärputsch kann nicht akzeptiert werden.»

Was wir wissen und was wir nicht wissen

Putschversuch in der Türkei: Militärs versuchen, Präsident Erdogan zu stürzen – der wehrt sich. In der größten Stadt des Landes herrscht Chaos.

Die Angaben über die Lage am Bosporus sind widersprüchlich. Was wir wissen und was wir nicht wissen.

WAS WIR WISSEN:

– Türkische Streitkräfte haben mit einem Putschversuch gegen den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan begonnen. Sie wollen die Macht im Land übernehmen. Erdogan hatte in den vergangenen Jahren versucht, das putschfreudige türkische Militär weitgehend zu entmachten.

– In Istanbul sind nach Augenzeugenberichten Schüsse in den Straßen zu hören. Kampfjets fliegen im Tiefflug über Istanbul. Explosionen dröhnen durch die Stadt. In der größten Stadt der Türkei herrscht Chaos.

– Das Militär hat nach eigenen Angaben die Kontrolle über die Türkei. Sie haben eine Ausgangssperre verhängt. Das Präsidialamt und Regierungsvertreter bestreiten das. «Das ist ein Angriff gegen die türkische Demokratie», teilte das Präsidialamt mit. «Eine Gruppe innerhalb der Streitkräfte hat außerhalb der Kommandostruktur einen Versuch unternommen, die demokratisch gewählte Regierung zu stürzen.»

– Erdogan wehrt sich gegen den Putsch. In der Nacht zu Samstag meldete er sich gegen Mitternacht telefonisch beim Nachrichtensender CNN Türk: «Ich rufe unser Volk auf, sich auf den Plätzen und am Flughafen zu versammeln. Sollen sie (die Putschisten) mit ihren Panzern und ihren Kanonen machen, was sie wollen.»

– Die türkische Regierung bittet um internationalen Beistand: «Wir drängen die Welt, solidarisch zum türkischen Volk zu stehen», teilte das Präsidialamt mit.

WAS WIR NICHT WISSEN:

– Wie weit reicht die Kontrolle des Militärs tatsächlich? Die Angaben des Militärs und er Regierung widersprechen sich. Die Lage in der Türkei war in der Nacht zu Samstag für Beobachter unübersichtlich. Auch welche Teile des Militärs an dem Putsch beteiligt sind, war zunächst nicht eindeutig.

– Der genaue Aufenthaltsort von Präsident Erdogan ist unklar. Er sei an einem sicheren Platz, hieß es aus seinem Umfeld. In sozialen Medien kursierten Gerüchte, ein Flugzeug mit Erdogan an Bord habe um Erlaubnis gebeten, Deutschland anfliegen zu dürfen. Von deutscher Seite gab es dazu zunächst keine offizielle Bestätigung.

– Was die Streitkräfte nach einer möglichen Machtübernahme vorhaben, war vorerst unklar. Mit dem Putsch sollten unter anderem die verfassungsmäßige Ordnung, die Demokratie und die Menschenrechte wiederhergestellt werden, teilte das Militär nach Angaben der privaten Nachrichtenagentur DHA mit. Darüber hinaus veröffentlichte die Armee vorerst keine Agenda oder politische Ziele.

– Wie ist die Lage für Urlauber? In Urlaubsregionen sei die Lage ruhig, sagte ein Sprecher des Veranstalters Thomas Cook am Morgen – er habe zumindest keine gegenteiligen Informationen. Die Buchungen in die Türkei waren wegen der Anschläge in den vergangenen Monaten bereits eingebrochen.

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