München (dpa) – Es war einmal ein Junge namens Charlie Reade, der alles andere als märchenhaft aufwächst. Er ist erst drei Jahre alt, da wird die Mutter von einem Laster überfahren. Der Vater hängt fortan an der Flasche. Doch der Junge aus dem Örtchen Sentry, Illinois, entwickelt sich zu einem pflichtbewussten, feinen Kerl. Charlie sorgt sich um Haushalt, Vater und Mitmenschen. Als in der Nachbarschaft der grantige alte Howard Bowitch von der Leiter fällt und sich sein Bein bricht, kümmert sich der 17-Jährige um den alten Holzfäller – der Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft.
Als der Alte an einem Herzinfarkt stirbt, vermacht er dem Jungen das Haus samt Grundstück und unheimlichem Gartenschuppen, aus dem schabende, kratzende Geräusche kommen. Charlie geht rein und entdeckt ein großes Loch im Boden. Es ist die Pforte zu einer anderen Welt.
Von Stephen King zu den Brüdern Grimm scheint der Weg recht weit. Der eine schreibt über Monster, Horror-Haustiere und Killer-Clowns, bei den anderen geht es um Frau Holle und den Froschkönig. Aber Märchen können auch ganz schön düster sein. Mit seinem neuen Roman «Fairy Tale» macht Stephen King mit seinem Protagonisten Charlie einen Ausflug in eine Märchenwelt, die grausamer ist als die üblichen Grimmschen Geschichten.
Über eine unterirdische Passage, den Weltenbrunnen, gelangt Charlie ins Königreich Empis. Das sieht aus, wie man sich eine Märchenwelt eben vorstellt – übergroße weiße Kaninchen hoppeln über die Wiese wie im Wunderland von Alice. Ein gläserner Palast mit hohen Türmen am Horizont, so wie die Smaragdstadt im Zauberer von Oz. Die lange unterirdische Wendeltreppe, die nach Empis führt, erinnert an die Geschichte von Jack und der Bohnenranke. Und ebenso wie Jack hat auch unser Held Charlie bald mit blutrünstigen Riesen zu kämpfen.
Denn Empis, einst ein prosperierendes Königreich, über dem zwei Monde stehen, ist verflucht. Seine Bewohner siechen an einer grausamen Krankheit dahin, ihre Gesichter zerfallen, sie werden grau. Die Prinzessin ist zur stummen Gänsemagd verzaubert worden. Ein entstelltes Wesen, der Flugtöter, regiert mit seinen Nachtsoldaten das Land, verbreitet Schrecken und Angst. Der junge Charlie gerät bei einem Ausflug in die Unterwelt in die Fänge des Regimes – und mutiert vom Gefangenen zum Helden. Aber der Märchenprinz weiß noch nicht, was ihn erwartet.
Stephen King ist im Horror daheim, produziert seit Jahren Gruselgeschichten am Fließband. Zuletzt litt er aber unter einer monatelangen Schreibhemmung, wie sein Verlag berichtet. «Beim Frisbeespielen mit meinem Hund fragte ich mich, was genau ich wohl schreiben könnte, um mich selbst glücklich zu machen», wird er zitiert. Da habe er die Märchenwelt vor sich gesehen. «Ich wollte über eine andere Welt schreiben, eine Märchenwelt, und ich wollte die Seiten mit Abenteuern (und ein wenig Romanze) füllen», so King. Einiges davon sei ihm schwergefallen. «Ich musste mir selbst wieder beibringen, Spaß und Freude zu haben.»
Die Fantasie geht Stephen King auch auf seine alten Tage (am 21. September wird er 75) nicht verloren. Ein gewöhnlicher Junge, der zum Märchenprinz wird, ein Eimer voller Gold, ein böses Rumpelstilzchen, widerliche Riesen, eine Sonnenuhr, mit der man die Zeit zurückdrehen kann – und am Ende der ultimative Kampf gegen Gut und Böse. «Fairy Tale» erzählt auf 880 Seiten Zauberhaftes und Zerstörerisches, ist ein packendes Heldenepos und Horrorstory – auch wenn der sonst für King übliche Gänsehaut-Faktor ein wenig fehlt. Dafür ist «Fairy Tale» dann doch zu sehr Märchen. Seinen Kindern sollte man die Geschichte aber trotzdem besser nicht zum Einschlafen vorlesen.