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Der Literatur- Papst ist tot

Deutschlands berühmtester Literaturkritiker war hoch geachtet und gefürchtet zugleich. Jetzt ist seine Stimme für immer verstummt. «MRR», der 1938 in Berlin als Jude nicht studieren durfte und später zahlreiche Ehrendoktortitel erhielt, starb am Mittwoch im Alter von 93 Jahren in Frankfurt. Im März diesen Jahres hatte er seine Krebs-Erkrankung öffentlich gemacht.

Auch im hohen Alter war er noch eine zentrale Instanz der Literaturszene. Bis zuletzt hatte er eine Kolumne in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung». «MRR» war nicht nur viele Jahrzehnte der unangefochtene deutsche Literaturpapst, er war auch ein «begnadeter Entertainer», wie ihn Thomas Gottschalk an seinem 90. Geburtstag in der Frankfurter Paulskirche bewundernd nannte. Wie kein anderer deutscher Intellektueller schaffte er es, das spröde Medium Buch im Fernsehen populär zu machen.

Der deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki verfolgt am Mittwoch (28.08.2002) in der Frankfurter Paulskirche gemeinsam mit seiner Frau Teofila die Laudatio anlässlich der Verleihung des Goethepreises an ihn.

Literatur als Unterhaltung
Das «Literarische Quartett» im ZDF, das Reich-Ranicki fast 14 Jahre lang moderierte, war für Millionen Menschen immer auch eine große Unterhaltungsshow. Von 1988 an bis 2001 wurden in 77 Sendungen rund 400 Bücher besprochen – und oft zu Bestsellern gemacht. Im August 2006 erklärte Reich-Ranicki seinen endgültigen Abschied vom «Quartett». Darin hatte er zuletzt noch in einigen Sondersendungen mitgewirkt.

Ein halbes Jahr zuvor war Reich-Ranicki nach einer Sendung zum 150. Todestag von Heinrich Heine mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus gekommen. Seitdem galt er als gesundheitlich angeschlagen. Im April 2011 starb seine Frau Teofila («Tosia») im Alter von 91 Jahren. Mit ihr war er einst aus dem Warschauer Ghetto geflüchtet. Altwerden sei fürchterlich, räumte er in den vergangenen Jahren mehrfach in Interviews schonungslos ein. Der Tod sei sinnlos und er müsse täglich daran denken, sagte der Skeptiker, der nicht an religiöse Heilsversprechen wie an ein überirdisches Weiterleben glaubte.


Der fuchtelnde Zeigefinger

Des Kritikers fuchtelnder Zeigefinger, sein leichtes Lispeln und die etwas krächzende, aber durchdringende Stimme waren Markenzeichen, die oft auch parodiert wurden. Natürlich brauchte «MRR», der sich immer virtuos in Szene zu setzen wusste, auch Sparringspartner: Im «Quartett» waren dies Hellmuth Karasek, die Reich-Ranicki wenig zugetane Sigrid Löffler – zum Schluss durch Iris Radisch ersetzt – und ein wechselnder Gast.

Reich-Ranickis Urteil war oft hart, gelegentlich unfair. Verquaste Floskeln waren nicht sein Ding. Er schrieb, wie er sprach: direkt und unverblümt, aber rhetorisch geschliffen. «Die Klarheit ist die Höflichkeit des Kritikers, die Deutlichkeit seine Pflicht und Aufgabe», lautete sein Credo. Allerdings lasse sich dabei Grausamkeit «leider nicht immer ausschließen», wie er einräumte.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ehrt am 09.05.2008 den Literaturkritiker und Autor Marcel Reich-Ranicki für sein journalistisches Lebenswerk im Schauspielhaus in Hamburg mit dem Henri-Nannen-Preises 2008.

«Wertlose Prosa, langweilig von der ersten bis zur letzten Zeile, unlesbar!»
Das bekamen unzählige Schriftsteller zu spüren, allen voran Günter Grass. Dessen Roman «Ein weites Feld» bescheinigte er 1995 im «Quartett» und in einer «Spiegel»-Titelstory, das Buch sei «wertlose Prosa, langweilig von der ersten bis zur letzten Zeile, unlesbar!» Der gekränkte Literatur-Nobelpreisträger warf dem Kritiker Größenwahn vor. Erst 2002 kam es zu einer Annäherung. Zum 80. Geburtstag von Grass würdigte Reich-Ranicki dann den Autor als «nach wie vor bedeutendsten deutschen Schriftsteller». Ein Gedicht von Grass, in dem dieser Anfang 2012 Israel vor einem atomaren Erstschlag gegen den Iran warnte und den jüdischen Staat zur Bedrohung für den Weltfrieden erklärte, bezeichnete Reich-Ranicki aber als «ekelhaft».

Ihn verband auch mit Martin Walser eine jahrelange Fehde. Diese gipfelte 2002 in Walsers Skandalbuch «Tod eines Kritikers», das wegen Antisemitismusvorwürfen beinahe nicht gedruckt worden wäre. Darin kommt ein jüdischer Literaturkritiker zu Tode, unschwer als «MRR» zu erkennen. Er und seine Frau Tosia seien von dem Buch «tief getroffen», schrieb Reich-Ranicki bitter. Als Bedingung für eine Aussöhnung bestand er an seinem 90. Geburtstag im Juni 2010 auf einer Entschuldigung Walsers.

«Mein Leben»
Angesichts seiner Vita, die er 1999 in seiner Bestseller-Biografie «Mein Leben» (in Deutschland rund 1,5 Millionen verkaufte Exemplare) beschrieb, ist das verständlich: Nach der Geburt in Polen siedelte der junge Marcel mit seiner jüdischen Familie nach Berlin um. Die Nazis wiesen ihn 1938 nach dem Abitur nach Polen aus. Aus dem Warschauer Ghetto floh er 1943 mit seiner Frau, die er dort kennengelernt hatte.

Das Paar überlebte in Verstecken. Reich-Ranickis Eltern und die von Tosia wurden Opfer des Holocaust. In seinem letzten großen öffentlichen Auftritt schilderte «MRR» im Bundestag am 27. Januar 2012 – dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz – in bewegenden Worten, wie im Juli 1942 die Deportation der Warschauer Juden in die Vernichtungslager begann.

2002 wurde Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Paulskirche der Goethepreis verliehen.

Ausschluss aus KP wegen «ideologischer Fremdheit»
Reich-Ranicki war 1949 über die Arbeit in Polens kommunistischem Geheimdienst und im diplomatischen Dienst nach Warschau zurückgekehrt. 1950 wurde er aus seinen Ämtern entlassen und aus der KP wegen «ideologischer Fremdheit» ausgeschlossen. Schon lange ein Liebhaber deutscher Literatur, begann er als Lektor und freier Schriftsteller zu arbeiten.

1958 kam er für immer nach Deutschland und machte sich als scharfzüngiger Kritiker bei der «Zeit» in Hamburg einen Namen. Von 1973 bis 1988 leitete er die Literaturredaktion der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Das große Publikum fand er aber erst 1988 mit dem «Literarischen Quartett».

«Arbeit, Arbeit, Arbeit»
Reich-Ranickis Leben hieß Lesen und Schreiben. «Arbeit, Arbeit, Arbeit» sei sein Motto, sagte er einmal. Wegen seiner Arbeitswut konnte sich der rastlose Reich-Ranicki nicht wie andere aufs Altenteil zurückziehen – Urlaub war für ihn ein Fremdwort.

«MRR» verantwortete neben dem umfangreichen «Kanon der deutschen Literatur» bis zuletzt die «Frankfurter Anthologie» – jedes Jahr kam ein Band mit 50 kommentierten Gedichten heraus. Als Literat alter Schule schätzte er die Klassiker, neben Goethe auch Schiller, Lessing, Heine, Schnitzler, Fontane, Thomas Mann und Kafka.

«Nein, ein glücklicher Mensch bin ich nicht»
Der Literaturkritiker lebte viele Jahrzehnte lang mit seiner Frau Tosia in Frankfurt. Der einzige Sohn des Paares arbeitet als Mathematikprofessor in Großbritannien. «Nein, ein glücklicher Mensch bin ich nicht», gestand Reich-Ranicki zu seinem 85. Geburtstag.

Aber er fand auch immer wieder gleich Trost – in der Literatur. Schließlich seien auch die großen Schriftsteller wie Kafka oder Thomas Mann nie glücklich gewesen. «MRRs» Wirken wird weiterleben. An der Universität Tel Aviv wurde im März 2007 ein nach Reich-Ranicki, der selbst gerne Professor geworden wäre, benannter Lehrstuhl für deutsche Literatur eingerichtet.
 

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