Brüssel (dpa) – Wer die Warnungen hören wollte, konnte sie hören. «Wir sind mit extrem großen Netzwerken konfrontiert», hatte Frankreichs Präsident François Hollande erst am vergangenen Freitag an der Seite von Belgiens Premierminister Charles Michel gesagt. Die Zahl derjenigen, die sich an der Vorbereitung der Pariser November-Anschläge mit 130 Toten in verschiedener Form beteiligt hätten, sei größer als zunächst angenommen, die Gefahr nicht gebannt.
Da war gerade Salah Abdeslam gefasst worden. Jener 26 Jahre alte Mann, der seit den Anschlägen von Paris als Mittäter und meistgesuchter Terrorist Europas galt. Derjenige, dem in Brüssel weitere Anschläge zugetraut worden waren.
Belgiens Ermittler gescheitert
Nach diesem Dienstag, dem 22. März 2016, kann festgehalten werden, dass die Ermittler gescheitert sind – oder machtlos waren. Diesmal nicht in Paris, sondern in Brüssel, der «Hauptstadt Europas», richten Terroristen erneut ein Blutbad an. Am Flughafen sowie in einer Metro-Station mitten im EU-Viertel sterben Dutzende Menschen. Nur wenige hundert Meter entfernt von der U-Bahn-Station hatten noch am Freitag die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einen neuen Flüchtlingspakt mit der Türkei ausgehandelt.
Die Ereignisse machen klar, worauf Experten schon seit langem immer wieder hingewiesen hatten: Auch mit Hunderten oder Tausenden zusätzlichen Sicherheitskräften lassen sich Anschläge dieser Art nicht verhindern. Selbst wenn Reisende bereits an den Eingängen von U-Bahnen oder Flughäfen kontrolliert würden – wer könnte verhindern, dass sich Attentäter künftig an anderen belebten Orten wie Fußgängerzonen unter die Passanten mischen? Genau diesem zynischen Kalkül folgen seit einigen Monaten verstärkt Terroristen in Israel.
Wieder in Molenbeek untergetaucht
Belgische Ermittler werden sich dennoch unangenehmen Fragen stellen müssen. Wie konnte es sein, dass Salah Abdeslam, der meistgesuchte Terrorist Europas, in seiner als Islamistenhochburg bekannten Heimatgemeinde Molenbeek untertauchen konnte? In einer Wohnung, die nur wenige hundert Meter entfernt von seinem Elternhaus liegt? Warum wurde die Terrorwarnstufe trotz mutmaßlicher Anschlagspläne von Abdeslam nicht angehoben? All diese Fragen blieben am Dienstag zunächst unbeantwortet.
Für das gerade einmal elf Millionen Einwohner zählende Königreich sind die Anschläge ein Schock – auch wenn es Vorzeichen gab.
Bereits nach dem Anschlagsversuch auf den Thalys-Hochgeschwindigkeitszug im August sowie den Pariser Attentaten auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo» und einen koscheren Supermarkt im Januar 2015 führten Spuren in den Großraum Brüssel. Schon im Mai 2014 hatte zudem ein französischer Islamist im Jüdischen Museum in Brüssel vier Menschen erschossen. Auch er hatte kurz vor der Tat in Molenbeek gelebt. Dann kamen die Anschläge am 13. November in Paris.
Premier Charles Michel: «Gigantisches Problem»
«Ich stelle fest, dass es fast immer eine Verbindung nach Molenbeek gibt, dass es dort ein gigantisches Problem gibt», räumte Premierminister Charles Michel damals ein – und versprach zusätzliche Ressourcen für den Anti-Terror-Kampf und Anti-Radikalisierungs-Projekte für die Brüsseler Problemgemeinde. Mit einer Arbeitslosenquote von rund 30 Prozent und einem hohen Anteil kaum integrierter muslimischer Einwanderer gilt sie seit Jahren als Rückzugsgebiet einer abgeschotteten Parallelgesellschaft.
Warum Belgien ein so großes Problem mit radikalen Islamisten hat? Einen Erklärungsversuch lieferte bereits im vergangenen Sommer der belgische Senator Alain Destexhe. «Im Namen der Religionsfreiheit und der Multikulturalität haben es die belgischen Behörden radikalen Gruppen viel zu lange erlaubt, sich zu entwickeln», schrieb er in einem Beitrag für die französische Tageszeitung «Le Figaro». Den wenigen Kritikern seien Stigmatisierungsversuche oder Islamophobie vorgeworfen worden.
500 Kämpfer aus Belgien in Syrien
Ein Ergebnis dieser Politik sei, dass aus keinem anderen EU-Land relativ gesehen so viele Menschen in den Bürgerkrieg in Syrien zögen wie aus Belgien, merkte Destexhe an. Nach Schätzungen von Sicherheitsbehörden stammten zuletzt rund 500 Kämpfer in dem Krisengebiet aus dem Königreich.
Zumindest diese dürften auch für Anti-Radikalisierungs-Programme kaum mehr erreichbar sein. In Internetforen schwören Extremisten regelmäßig denjenigen Nationen Rache, die in Syrien und im Irak Luftangriffe auf ihren sogenannten «Islamischen Staat» fliegen. Dies sei mindestens genauso feige, wie ein Selbstmordanschlag, heißt es dazu regelmäßig.
Erdogan: «EU-Tanz auf dem Minenfeld»
Ähnlich wie Destexhe äußerte sich am vergangenen Freitag der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. In Wut über eine von den belgischen Behörden tolerierte Kurden-Demonstration, bei der auch Unterstützer der verbotenen Arbeiterpartei PKK auftraten, verglich er den Umgang der EU mit Terroristen mit einem «Tanz auf dem Minenfeld». Europäische Länder handelten immer noch mit Nachlässigkeit, sagte er. «Es gibt überhaupt keinen Grund, warum eine Bombe, wie sie in Ankara explodiert ist, nicht auch in Brüssel (…) oder jeder anderen europäischen Stadt explodieren würde.» Das klingt heute wie eine düstere Prophezeiung.
Die Ermittler sehen bislang keine eindeutige Verbindung zwischen den Terroranschlägen in Brüssel und denen am 13. November in Paris. «Für den Augenblick ist es nicht möglich, eine formale Verbindung zu den Anschlägen von Paris herzustellen», sagte Staatsanwalt Frédéric Van Leeuw am Dienstagabend bei einer Pressekonferenz. Auch die Bekennernachricht der Terrormiliz Islamischer Staat habe noch nicht eindeutig verifiziert werden können.