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Europa als Festung klappt nicht

Ungarn will den Strom von Flüchtlingen nach Westeuropa mit einem Stacheldrahtzaun stoppen. Die Erfolgsaussichten sind gering. Der Zug Zehntausender Syrer, Pakistaner und Afghanen zeigt überall nur eines: Hilflosigkeit.

Subotica/Szeged (dpa) – Der ungarische Regierungschef Viktor Orban spricht von einer «Völkerwanderung». Die serbische Grenzpolizei sieht einen «wahren Exodus» nach dem Vorbild des biblischen Auszuges der Israeliten aus Ägypten. In Zahlen: 86 000 aufgegriffene Migranten allein in den ersten sieben Monaten in Ungarn, sagt die Regierung. Im gesamten Vorjahr waren es nur 32 000. Zehn Jahre zuvor sogar nur 34.

Flüchtende aus Aleppo in Syrien auf dem Weg zur makedonisch-serbischen Grenze. Das Mächen in der Tasche soll, wenn es nach Typen wie Viktor Orban geht, keine Zukunft in Sicherheit bekommen.

Die Zahl der Asylsuchenden könnte schon bald dramatisch wachsen, viele sagen sogar: explodieren. Denn nach Angaben der EU-Grenzschutzagentur Frontex sind allein im Juli rund 50 000 Flüchtlinge in Griechenland eingetroffen – alle auf dem Weg nach Westeuropa, vor allem nach Deutschland.

In dem kleinen Urlaubsort Palic im Norden Serbiens wartet Scherwan Jusef (44) mit seiner 13-jährigen Tochter Jara auf eine zweite Chance, illegal über die EU-Außengrenze in Richtung Ungarn zu kommen. Einmal habe er es schon geschafft, sei aber von einer Patrouille entdeckt und sechs Tage ins Gefängnis gesteckt worden, erzählt der frühere Beamte im für Steuern zuständigen syrischen Ministerium. Die Behandlung sei äußerst mies gewesen, wenig Essen und Wasser inklusive.

Das gleiche Schicksal durchlitten der frühere Geschichtsstudent Salah Saleh (25), Hussein (24) und Dschalal Ali (43) sowie ein weiterer Verwandter. In ihrer kriegszerstörten Heimat waren sie einst Rechtsanwälte oder Textilarbeiter. Alle stammen aus dem syrischen Afrin nordwestlich von Aleppo an der Grenze zur Türkei. Von dort hätten sie sich zum türkischen Hafen Izmir durchgeschlagen, erzählen sie. Für die kurze Überfahrt in wackeligen Bötchen bis zur griechischen Insel Chios seien 1000 US-Dollar pro Person fällig gewesen.

Die beiden afghanischen Studenten Dschan Wiran Kobani (24) und Mustafa Umar (30) aus Ghasni, die tagelang in einem Park der Belgrader Unterstadt campierten, erzählen Ähnliches. Mit 50 weiteren Flüchtlingen seien sie über Izmir auf der griechischen Insel Lesbos gelandet. Für die Kurzpassage auf klapprigen Rettungsbooten mussten sie wie Tausende Andere zwischen 1000 und 2000 Dollar lockermachen.

Auch die vielen pakistanischen Flüchtlinge kommen nach eigenen Angaben über die immer gleiche Route: Über die Türkei auf eine der nahe gelegenen griechischen Inseln wie Samos. Dann weiter über Athen. Mazedonische Behörden berichten, Griechenland bringe Asylbewerber mit Bussen an die Grenze, wo sie im Niemandsland ohne weitere Hilfen ausgesetzt würden. Die mazedonische Regierung schaut weg und überlässt den privaten Hilfsorganisationen den Einsatz.

Rund 1200 Flüchtlinge kommen jeden Tag. Im September könnten es sogar 10 000 sein, fürchtet Jasmin Redzepi von der Organisation Legis, die schon Erfahrungen in Somalia sammeln konnte. Legis verteilt in Mazedonien täglich 1200 Lunchpakete und Wasser. Einmal in Gevgelija bei der Einreise und noch einmal in Tabanovce am Grenzbahnhof bei der Ausreise nach Serbien.

Wenn sie nicht zu Fuß, auf dem Fahrrad oder in Taxis Mazedonien durchqueren, kommen sie mit den drei täglichen regulären oder den vielen Sonderzügen. «Unsere ohnehin marode Eisenbahn hat dafür überhaupt nicht die Kapazitäten», stöhnt Branimir Jovanovic in Skopje von der «Linken Bewegung Solidarität». Also laufen die Flüchtlinge auf dem Schienenstrang in Richtung Norden. Rund 20 000 allein von Mitte Juni bis Mitte Juli. Ende April wurden 14 Emigranten getötet, weil sie wegen handgreiflicher Streitigkeiten einen heranbrausenden Dieselzug nicht bemerkten.

In den beiden Dörfern Vaksince und Lojane in Sichtweite der Grenze zu Serbien hat sich das Schleusen von Flüchtlingen zum einträglichen Geschäft entwickelt. Schon bisher hatte die Polizei dort wenig zu sagen, so dass organisierte Banden einträglich mit Drogen- und Waffenschmuggel verdienen konnten. Jetzt schnappen sie sich Flüchtlinge und sperren sie solange ein, bis sie 500 Euro oder mehr für ihre Freilassung herausrücken. Mitte Juni rückte die Polizei unter dem Codenamen «Ali Baba» dann doch in Vaksince ein und befreite 128 eingekerkerte Flüchtlinge.

In Serbien müssen sich die Migranten im «Empfangszentrum» der Stadt Presevo melden. Weil sie in der Regel ohne Papiere ankommen, werden sie dort erkennungsdienstlich behandelt und erhalten Essen, Getränke und eine medizinische Notversorgung. Die nächste Etappe ist die serbische Hauptstadt Belgrad, wo sie in öffentlichen Parks in der Unterstadt auf Busse an die Grenze zu Ungarn warten.

Dort schnappten Grenzschützer in den ersten sieben Monaten des Jahres 9132 «Illegale», wie die Grenzpolizei in Subotica schön säuberlich aufgelistet hat. Sie werden vom Schnellrichter für ein paar Tage ins Gefängnis gesteckt und versuchen es dann wieder, berichten die Behörden. Sie wissen auch, dass ihnen der weitaus größte Teil der Asylbewerber entwischt.

Chaotische Zustände herrschen in der Kleinstadt Kanjiza, die 3,5 Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt ist. Abend für Abend kommen hier bis zu 2000 Flüchtlinge in Bussen an. Sie campieren meist direkt vor dem Rathaus. Gemeindevorstand Robert Lacko ist verzweifelt. «Wir wissen nicht, warum so viele Menschen ausgerechnet zu uns kommen», beschreibt der Mann seine Ratlosigkeit. «Die Bevölkerung hat Angst, hat die Nase voll», fügt er wütend hinzu.

Die Stadt lasse täglich mit vier Traktoranhängern zwölf Tonnen Müll einsammeln, der beim Durchzug der Flüchtlinge zurückbleibe, beschreibt er eines der vielen Probleme. Und das Schlimmste: Alles müsse die Stadt aus ihrem schmalen Budget finanzieren, sei ohne jegliche Hilfe der Regierung, geschweige denn aus der EU.

Bei Einbruch der Dunkelheit setzt sich die Flüchtlingskarawane in Richtung Ungarn in Bewegung. Dort sollen die Migranten bis Ende des Monats mit einem Grenzzaun gestoppt werden. Auf einer Länge von 175 Kilometern wird sogenannter NATO-Draht, eine Art Stacheldraht mit rasiermesserscharfen Schneiden, befestigt. Auf vier Meter soll er in die Höhe wachsen. So soll der Dauerstrom der Zuwanderer auf ein Sechstel zurückgehen, hat Ungarns Ministerpräsident Orban versprochen.

Doch viele Grenzschützer zweifeln an einem Erfolg. Es gebe viel zu wenig Personal, um den Zaun zu bewachen. «Wir werden drüberspringen», «Wir werden den Zaun aufessen», machen sich die Flüchtlinge auf ihrem Weg in Richtung Westeuropa Mut. In den Grenzdörfern Serbiens gebe es schon Anzeichen für einen neuen Markt für Drahtscheren, berichtet die Polizei. Und tatsächlich: In der vergangenen Woche schnitten 18 Migranten den Draht durch und kamen so doch nach Ungarn. Sie wurden allerdings geschnappt, festgenommen und wieder abgeschoben.

Die es am Ende doch schaffen, bekommen in der nahe gelegenen Stadt Szeged etwas zu essen, zu trinken und Hygieneartikel. Die Hilfe wird von der ungarischen Hilfsorganisation MigSzol mit tatkräftiger Unterstützung der Kommune generalstabsmäßig geplant und umgesetzt. In der Hauptstadt Budapest sind die Flüchtlinge ganz sich selbst überlassen. Und kommen ihren Traumzielen Österreich, den Niederlanden, Skandinavien und vor allem Deutschland immer näher.

Warum setzen Hunderttausende seit dem Frühjahr scheinbar wie auf Kommando mit ihrer Flucht nach Westeuropa alles auf eine Karte? Der Bürgerkrieg in Syrien, von wo geschätzte 70 Prozent der Asylbewerber auf der Balkanroute stammen, dauert doch schon vier Jahre. In Griechenland, Mazedonien und Serbien halten viele das für eine gezielte Aktion, mit der die USA Europa schwächen wollten.

Auch der Kanjiza-Gemeindevorsteher Lacko ist sich ganz sicher, dass es sich um eine «bestens organisierte Flucht» handelt. Die verschiedenen Nationen würden von «Anführern in speziellen T-Shirts» und regulären Personaldokumenten geleitet. Geld sei reichlich vorhanden und werde im Ort und anderswo über Western Union organisiert: «Ich habe gesehen, wie jemand ein Stück Burek mit einem 500-Euro-Schein bezahlen wollte», will er seine Behauptung belegen. Auffällig ist jedenfalls, dass die Gruppen in der Regel gezielt mit Hilfe von GPS-Daten unterwegs sind. «Und da ist leider unsere beschauliche Stadt Kanjiza als letzter Punkt vor der ungarischen Grenze markiert», klagt Lacko.

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