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Paris ganz Unten

Comment? Paris soll die kleinste der neun beschriebenen Metropolen sein? Lassen Sie sich bitte nicht ins Bockshorn jagen, alles letztendlich eine Frage des Zuschnitts – und der Fortbewegungsmittel! Darf‘s ein bisschen mehr sein? Hier ein Greater London aufgeschnallt, dort ein paar barros einverleibt, und wieder ist etwas Boden gut gemacht im Rennen um die Super-Polis. Wir lassen uns doch von so ein bisschen Großstadtkosmetik und Stadtverwaltungsreform keinen Sand in die Augen streuen. Was wir sehen, ist groß, sehr groß: Die Metropole unseres Herzens, la ville de l’amour, ist für uns, die wir die Stadt per pedes durchschreiten, die Allergrößte – auch wenn der Rest der Grande Nation pikiert die Nase rümpft: Paris? Welches Paris? Ich kenne kein Paris.

Die Traumstadt im Schnee.

Keine Angst, es ist genug Paris für alle da. Wie sieht denn die Stadt Ihrer Träume aus? Sie darf auf keinen Fall zu viel mit der Realität zu tun haben. Sie kann das Paris der Legende sein, die der flüchtige Trojaner Paris gegründet haben soll. Sie kann ein Abziehbild sein, wie das „toujours liberté“ der Gauloises-Werbung, wie Gershwins Amerikaner in Paris: I love Paris in the springtime … Sie will immer gefeiert werden, wie Hemingways Fest fürs Leben. Mein Paris war das Klischee der wilden Bohème. Mit 15, da hat man noch Träume – von Champagne aus Damenschuhen, Versuchungen im Moulin Rouge und der Entdeckung als genuiner Nachfolger Georges Braques. Um es kurz zu machen:Sie hatten nicht gerade den roten Teppich ausgerollt, die Pariser, als uns, Kunstkamerad Krumey und mich, der LKW-Fahrer schlappe zehn Kilometer vorm Stadtzentrum an einer der rauschenden Ausfallstraßen absetzte. Einige Stunden später erreichten wir die Seine und waren einfach nur froh, uns vorm Zapfenstreich in die nächstbeste Spelunke zu quetschen. Es war das „Hofbräuhaus“, ausgerechnet, und zu Pseudo-Bratwürsten spielte eine Musette bavaroise auf. Oh ja, Paris kann so groß sein, wenn man anschließend um 3 Uhr morgens zum Gare de l’Est marschieren muss, um dort ein Schlafplätzchen zu ergattern – einen orangefarbenen Plastiksitz, der für zwei Stunden unser Himmelreich wurde.

Das Glück der Naiven

Den Weg zurück kannten wir nun schon: Seine rückwärts im Morgendunst, Richtung Jardin de Tuileries. Meine Güte, was waren wir naiv – die schweren Rucksäcke stellten wir vor aller Augen sichtbar an eine Parkbank und marschierten los. Die Theorie schien einleuchtend: Kein Dieb konnte sich sicher sein, ob er nicht beobachtet würde. Ob sie’s glauben oder nicht: Die zwei „Monstrümmer“ standen abends immer noch da und wir waren um 1000 Eindrücke reicher. Wir haben Paris von ganz unten erlebt, als obdachlose Streuner, ein derbes Paris, mit an Fensterscheiben gedrückten Nasen, mit Gerüchen, die unsere Mägen lauter knurren ließen. Wir haben mit den Clochards gelitten, die robuste Wirte mit Baseballschlägern aus funktionalen Bistros prügelten, mit den Straßenkehrern, die um 5 Uhr früh die Reste der Schönen und Reichen beseitigten. Wir trafen uns mit meiner ersten großen Liebe, die nach unserer Trennung hier her durchgebrannt war und nun mit uns zusammen bei einem arabischen Männer-Duo in einer Absteige auf dem Montmartre übernachtete – jeder von uns hatte alle Hände voll zu tun, damit unsere Gastgeber ihre Hände bei sich ließen und einer von uns musste nächtens mit dem Eimer, der hier als sanitäre Anlage herhalten musste, auf die Straße. Wir machten uns in einer Kneipe beim Sacré-Cœur wie blöde Besserschwätzer über einen Deutschen lustig, der seinen „veng rusch“ bestellte, träumten auf den Treppen über der Stadt von einer glorreichen Zukunft, marschierten stundenlang durch Pariser Vororte und ich, ich ganz besonders, kletterte mit Tripperschmerzen über die Mauer des Bois de Boulogne – der historischen Wahrheit zuliebe sei hier angemerkt: Dieses Andenken verdankte ich leider keiner galanten Begegnung als vielmehr mangelnder Vorsicht auf der Toilette …

Zickige Diva

Nie wieder haben wir so geliebt, gelitten…

Mit anderen Worten: Paris war das ganz große Abenteuer für uns junge, kühne Eroberer, auch wenn wir die zickige Diva nie wirklich rumkriegten – was den Reiz nur erhöhte, den Ehrgeiz anstachelte, die Sehnsucht ins Unermessliche steigerte. Welche Tragik, wenn die Angebetete dem Stürmen und Drängen des 15-jährigen Recken nicht nachgeben will. Nie wieder haben wir so geliebt, gelitten – und unsere Rhapsodie in Blue genossen. Wir sahen die dunkle Seite der Grande Dame, ihre wohl gehüteten Geheimnisse, die den Allerweltstouristen verborgen bleiben, wir sahen die 20 Arrondissements aus der Perspektive des Film noir, durchstreiften die Pariser Unterwelt in Begleitung des immer etwas derangierten Nestor Burma, Leo Malets Schnüffler im Paris der 50er Jahre, der in jedem Arrondissement ein Verbrechen aufklärte. Und wir kamen zurück, ein paar Jahrzehnte später, in einer etwas anderen Besetzung, längst nicht mehr auf der Suche nach einer amour fou, dafür mit etwas mehr Geld in den Taschen.

Und diesmal öffnete sich die vermeintlich so Spröde ohne Murren. So leicht ist sie zu haben, diese stolze Schöne, ein wenig mit den Geldscheinen und dem Presseausweis winken und schön öffnet sie ihre Pforten. Ein paar Tage in Mai erlebten wir die durchaus erträgliche Leichtigkeit des Seins an der Seine – ganz bewusst auch an, auf, bei und in den bekanntesten Points of Interest der französischen Hauptstadt zusammen mit den anderen 21 Millionen Besuchern, die Paris jedes Jahr überrennen. Wir machten die Probe aufs Exempel, ob die dichtest besiedelte Stadt Europas die behaupteten Superlative halten kann: mehr Hotels, Bars, Cafés, Restaurants, Kinos, Museen und Theater pro Einwohner soll es innerhalb der Stadtgrenzen geben als irgendwo anders auf der Welt – nachzulesen in der folgenden Stadtführung „20 Arrondissements à 4 Quartiers“.

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